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„Es geht mir um die Gewinnung eines Bildes von einem Land, das kaum mit Bildern verbunden ist. Im Fall der Ukraine, einer spätkommenden Nation, müssen sich diese Bilder noch ausprägen.“ Geradezu weggerutscht sei sie ihm, diese Ukraine, in all den Jahren, in denen er sich mit der Sowjetunion beschäftigt habe.
2015 hat Karl Schlögel sich dann selbst auf Reisen in die Ukraine begeben. Sein Fazit: „Die Gleichzeitigkeit von sozialer Realität und Analyse ist frappierend. Da sitzen die Soziologen der Universität von Lugansk oben an ihren Schreibtischen und analysieren das, was unmittelbar auf der Straße unten stattfindet. Das ist keine teilnehmende Beobachtung, sondern ein gezwungen-sein zum Mittendrin. Das ist die höchste Form der Selbstreflexion einer Gesellschaft.“
Das, was in der Ukraine vor sich gehe, zwinge uns dazu, Gewissheiten aufzugeben und vermeintlich Selbstverständliches neu zu hinterfragen. „Die Zuversicht ist erschüttert, dass sich nach 1989 schon alles fügen würde. Kein Happyend eines glücklich zu Ende gegangenen 20. Jahrhunderts, sondern etwas Neues hat angefangen.“
Mit dieser Einsicht seien intellektuelle Aufgaben und Herausforderungen verbunden: „Das Urvertrauen der friedensverwöhnten Generation ist erschüttert. Es ist Krieg. Und das mitten in Europa. Es gibt keine Garantie, keine teleologische Entwicklung. Wir müssen anerkennen, dass alles offen ist und wir geistesgegenwärtig sein müssen.“
Die Entwicklungen in der Ukraine machten zudem die Notwendigkeit deutlich, Dekolonisationsprozesse neu zu analysieren und sie brächten die Erforschung von Grenzen zwingend neu auf die intellektuelle Agenda: „Die Territorialfrage ist wieder da. Wir sind nicht in der Postmoderne, in der sich Grenzen nur an sozialer Distinktion festmachen ließen.“ Schließlich führe die Ukraine vor Augen, dass Europäizität – „Wo, wenn nicht hier, an der Europa-Universität Viadrina!“ – als offener Prozess neu studiert werden müsse.
„Für diese intellektuelle Perspektive und Herausforderung muss man dankbar sein“, resümierte der Autor zahlreicher essayistischer Bände über Osteuropa, die Vielen Anlass und literarischer Begleiter auf ihren Reisen in den „wilden Osten“ sind. Diejenigen aus Universität und Stadt, die Karl Schlögel zum Auftakt des Programms „Ukraine Calling – Ukraine-Kompetenz im Dialog“ an der Viadrina erleben durften, wissen warum. (MG)
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