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Frau Brockmann, wie erklären Sie Laien, warum man sich auch 100 Jahre nach seiner Geburt unbedingt an Karl Dedecius erinnern sollte?
Karl Dedecius war nicht nur Übersetzer, er war auch ein großer Literaturkenner, der es vermocht hat, mit Hilfe der Literatur zum besseren Verständnis zwischen Deutschen und Polen beizutragen – lange bevor jegliche politische Schritte in diese Richtung unternommen wurden. Sein Schlüssel zum Erfolg war es, die Idee der Annäherung durch Literatur und Kultur zu „institutionalisieren“: in dem von ihm gegründeten Polen-Institut in Darmstadt. Außerdem agierte Dedecius immer weitgehend unabhängig und konnte nach seiner persönlichen Auswahl übersetzen.
Hatte diese Arbeit auch eine politische Dimension?
Dedecius sagte immer, dass er unpolitisch war, aber er hat genau damit Politik betrieben. So hat er nicht nur die in Polen etablierten Autorinnen und Autoren übersetzt, sondern auch solche, die in der Emigration – zum Teil auch in der inneren Emigration – arbeiteten. Mit seinen Übersetzungen hat er den Deutschen die Kultur und auch das Volk auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs nähergebracht – das erwies sich als viel wirksamer als all die Propaganda.
Karl Dedecius, Prof. Dr. Gesine Schwan und Klaus-Dieter Lehmann (v.l.) bei der Eröffnung des Dedecius Archivs am 17.Oktober 2002 im Collegium Polonicum. Foto: Heide Fest
Welchen Einfluss hatte sein ungewöhnlicher Lebenslauf, der 1921 in Łódź begann und 2016 in Frankfurt am Main endete, auf sein Werk?
Dedecius‘ Biografie ist ein Spiegel des 20. Jahrhunderts; er hat die wichtigsten Ereignisse dieses Jahrhunderts bewusst miterlebt. Kurz nach dem Abitur ist er in die Wehrmacht eingezogen worden. Er hat Stalingrad erlebt und das sowjetische Gefangenenlager. Er kam in die DDR und flüchtete schließlich mit seiner Familie in die Bundesrepublik. Durch den Zweiten Weltkrieg hat er einen Großteil seiner Familie verloren, aber auch seine Heimat Łódź, die einen einzigartigen interkulturellen Kontext darstellte. Die Tätigkeit des Übersetzens ist für ihn zum Katalysator geworden, die Literatur zum Rettungsanker. Ein ähnlicher Bruch in der Biografie und eine Zuwendung zur Literatur und dem Übersetzen als Ausweg aus Krisen ist interessanterweise bei vielen Übersetzerinnen und Übersetzern zu beobachten, deren Dokumente wir in unserem Archiv aufbewahren und erforschen.
Welche Mission hat das Dedecius Archiv über das konkrete Bewahren und Erforschen der überlassenen Bestände hinaus?
Wir wollen eine Arche für deutsch-polnische Literatur-Übersetzerinnen und -Übersetzer sein und ihnen vermitteln, wie wichtig ihr Werk ist. Es gibt die Literatur nicht ohne die Übersetzerinnen und Übersetzer. Sie sind Kennerinnen, Netzwerker, Kritiker und Kulturmanagerinnen. Ihre Archive sind nicht weniger Wert als die der Autorinnen und Autoren. Daher ist es unser Anliegen, die Bestände zu retten – denn das Bewusstsein, dass die Unterlagen nicht mit der letzten Wohnungsauflösung verschwinden dürfen, ist oft nicht da.
(FA)
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