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„Wir warten nicht, bis sich der Pulverdampf gelegt hat“ – Interview über die Wahlkampf-Beobachtung „Zahlen zur Wahl“

Das Projekt „Zahlen zur Wahl“ an der Professur für Digitale Demokratie der European New School of Digital Studies (ENS) betreibt seit Anfang August 2021 „Wissenschaft live“. In kurzen Analysen und Grafiken wertet ein Team die Social-Media-Aktivitäten der Parteien und Kandidierenden im laufenden Wahlkampf aus. Über Erkenntnisse und Herausforderungen dieser Arbeit berichtet Projektleiter Dr. Johannes Gruber im Interview.

Herr Gruber, Ihr Team beobachtet seit Wochen den Bundestagswahlkampf und die Wahlkämpfe in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin. Dabei beschäftigt sich eine Person Ihres Teams ausschließlich mit der AfD. Warum diese Fokussierung?
Was die AfD auf ihren Social-Media-Kanälen macht, unterscheidet sich in vielen Dingen von den anderen Parteien. Zum einen wird von Seiten der AfD deutlich mehr gepostet und die Beiträge haben unter den Parteien die höchste Reichweite. Das liegt nicht zuletzt daran, dass fast alle Kandidat:innen und Verbände innerhalb der AfD eine eigene Präsenz haben. So kommt eine enorme Menge an Nachrichten zustande, die wir versuchen im Blick zu behalten. Zum anderen ist auch das Posting-Verhalten anders: Während die anderen Parteien häufig auf ihre eigenen Internetseiten oder die von großen Medien verlinken, führen die Links der AfD häufig auf rechte Blogs, auch auf Webseiten mit Verschwörungstheorien oder sie verlinken sich gegenseitig. Die AfD agiert populistisch und setzt auf Negativ-Kampagnen. Das würde auch den anderen Parteien wahrscheinlich mehr Reaktionen bringen, lenkt aber von dem eigentlichen politischen Geschehen ab. Insgesamt sind die Sozialen Medien für die AfD wichtiger, da ihre Klientel nur sehr wenig Vertrauen in die etablierten Medien hat.

angry ©Zahlen zur Wahl

Was war und ist darüber hinaus das Besondere an diesem Wahlkampf?
Untypisch war die Einmischung von privaten Akteuren. Die Schmähkampagne „Annalena und die 10 Verbote" der arbeitgebernahen Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft ist etwas Neues; so etwas kannte man eher aus den USA. Zwei weitere Kampagnen gegen die Grünen sind wohl der AfD zuzuordnen. Hier versuchen Akteure an den etablierten Regeln vorbei Einfluss auf die Meinungsbildung zu nehmen.
Abseits der politischen Beobachtungen kommt hinzu, dass der Zugang zu den Plattformen eingeschränkt wird. Prominent ist der Fall des Ad Observatory in den vergangenen Wochen diskutiert worden. Facebook hatte die Konten der Forschenden gesperrt, wodurch die Arbeit des Projektes stark eingeschränkt wurde.  Bei der schnell wichtiger werdenden Plattform TikTok ist es zudem quasi unmöglich, an Daten heranzukommen; mögliche Fälle von Desinformation können hier nicht aufgedeckt werden. Twitter ist da eine erfreuliche Ausnahme. Seit Anfang des Jahres bietet der Dienst Forschenden einen besseren Einblick in das, was auf der Plattform passiert.

Gibt es den Automatismus: Vielzitiert bei Twitter bedeutet Erfolg an der Wahlurne?
Eher im Gegenteil. Ein gutes Beispiel sind unsere Twitter-Auswertungen nach den Triell-Sendungen. In den Tweets während den Sendungen und danach kommt am häufigsten Armin Laschet vor, Olaf Scholz fast gar nicht. Aber es ist Scholz, der die höchste Zustimmung in den Spontanumfragen bekommt. Armin Laschet trifft eben vor allem viel Spott. Annalena Baerbock hingegen wird auf Twitter viel positiver gesehen als in den Umfragen. Das mag daran liegen, dass die Twitter-Nutzer:innen im Schnitt jünger sind als die Bevölkerung.

Triell_2 ©Zahlen zur Wahl

Wie hoch ist also die Aussagekraft der Social-Media-Aktivitäten für das, was am Sonntag passiert?
Man darf nicht vergessen, dass nur ein Teil der deutschen Wählerinnen und Wähler Soziale Medien nutzt: etwa 20 Prozent sind bei Twitter, 60 Prozent bei Facebook. Vor allem bei Twitter sind darunter viele Medienschaffende und andere Menschen mit großem Einfluss im beruflichen und privaten Umfeld. Das Geschehen bei Twitter und Facebook hat also vermutlich eine gewisse Rückkopplung auf das, was an der Wahlurne passiert.

Für wissenschaftliche Maßstäbe arbeiten Sie ungeheuer schnell. Mehr als 30 Artikel sind seit Anfang August erschienen. Wie schaffen Sie das?
Ulrike Klinger, die das Projekt konzipiert hat und leitet, nennt das, was wir machen, „Wissenschaft live“. Wir warten nicht, bis sich der Pulverdampf gelegt hat. Im üblichen wissenschaftlichen Betrieb würden wir jetzt erstmal nur die Daten sammeln, sie über Monate auswerten und einen Artikel schreiben. Der müsste dann durch die Peer-Review und würde schließlich im Normalfall hinter einer Paywall verschwinden. Unsere Analysen sind viel kleiner und deskriptiver. Sie zeigen oft ähnliche Phänomene, wie längere Beobachtungen, nur eben nicht ganz so tiefgründig belegt.

Wie arbeitet Ihr Team genau?
Wir sind fünf studentische Hilfskräfte, zwei Doktorandinnen vom Weizenbaum-Institut, Ulrike Klinger als Projektleiterin und ich, sozusagen als Chefredakteur. Über ein Chat-Tool machen wir uns gegenseitig Vorschläge für die Themen der Analysen. Es ist gar nicht so einfach, Ansätze zu finden, die einfach zu erklären sind und trotzdem einen hohen Informationsgehalt haben.
Wir nutzen dann das Monitoring-Tool CrowdTangle für die Auswertung von Facebook-Inhalten und Brandwatch für Twitter. Dadurch erkennen wir, über welche Themen gesprochen wird, welche Hashtags trenden, welche politischen Accounts sich besonders hervortun. Neben unserem schreiben auch Teams unserer Partnerprojekte von der NRW School of Governance und vom Hans-Bredow-Institut Beiträge für die Seite.

Was ist das Ziel dieser ungewöhnlichen Arbeitsweise?
Der Fokus des Projektes liegt auf der Wissenschaftskommunikation. Wir bieten eine Dienstleistung an – für Zeitungen, die sich eine solche Auswertung nicht leisten können, aber auch für Lehrerinnen und Lehrer sowie interessierte Bürgerinnen und Bürger. Alle Grafiken können frei genutzt werden. Das kommt gut an, unsere Artikel werden mehrere Hundert Mal gelesen, manche sogar mehrere Tausend Mal. Bei einem Artikel über die AfD und den sogenannten Staatsfunk ist die Aufmerksamkeit geradezu explodiert – wir wussten erst nicht warum. Später haben wir gesehen, dass Jan Böhmermann den Link geteilt hatte.

WORDCLOUD1 ©Zahl

Schlägt Ihnen und dieser Arbeitsweise auch Skepsis entgegen?
Es würde wahrscheinlich für Unmut sorgen, wenn wir wissenschaftlichen Standards nicht genügen; das tun unsere Analysen aber. Sie sind kürzer und weniger aussagekräftig, das sagen wir ganz offen. Wir behaupten nicht erklären zu können, warum die Leute wie wählen.
(FA)

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