Ministerpräsident Dr. Manfred Stolpe
„Zeichen des Dankes an Europa – Signal für den Aufschwung und Brücke zwischen West und Ost“
Rede des Ministerpräsidenten Dr. Manfred Stolpe zur Eröffnung der Europa-Universität in Frankfurt (Oder) am 6. September 1991
„Dies ist ein wichtiger Tag für das Land Brandenburg! Und es ist auch ein wichtiger Tag auf dem Wege zu einem gemeinsamen europäischen Haus. Nach 180 Jahren der Unterbrechung wird hiermit die ehrwürdige Viadrina in Frankfurt an der Oder wiedergegründet.
Schon damals gab es die Überzeugung, daß der Fluß nicht trennt, sondern daß er eine Brücke ist, eine Brücke der Verständigung, eine Gelegenheit des Zusammentreffens von Menschen in Europa. Hier haben Studenten aus der Mitte, dem Westen, dem Süden, dem Norden und dem Osten Europas gemeinsam gearbeitet, nach neuen Wegen gesucht und in der Startphase der Universität im 16. Jahrhundert gemeinsam die Verantwortung von der humanistischen Tradi tion gesammelt, in der sie gestanden haben. Sie erkannten, daß bei Unterschieden in den Auffassungen des Glaubens, in den Auffassungen, die von nationalen Prägungen herrührten, dennoch eine gemeinsame Verantwortung ähnlicher Aufgaben ansteht. An diese Traditionen wollen wir anknüpfen. Wir wollen mit dieser Universität ein Signal für Wissenschaft und Forschung in Brandenburg setzen, ein Signal unserer Überzeugung, daß damit Aufschwung und Zukunft angegangen werden. Aufgaben der Wissenschaft und der Kultur sind dabei nicht zweitrangig, sondern vorrangig. Sie müssen in der gleichen Weise angegangen werden wie die wirtschaftlichen und sozialen Aufgaben in unserem Land Brandenburg.
In meinen Tagesplan für heute paßt es gut, daß ich unmittelbar nach dieser Veranstaltung zu einer wirtschaftlichen Neugründung im Land Brandenburg zu reisen habe. Wir müssen beides betreiben: Wir müssen neue Arbeitsplätze und neue Möglichkeiten wirtschaftlicher Entwicklungen schaffen, aber wir werden die Aufgaben der Wissenschaft, der Forschung und der Kultur nicht nur nebenbei angehen. Wir setzen hier ein Signal für unsere Jugend, daß wir an ihre Zukunftschancen denken und ihr hier die Möglichkeit der Entwicklung anbieten wollen, die gleichwertig und vielleicht sogar ein Stückchen besser noch als andernorts ist. Es lohnt sich, in Brandenburg zu bleiben, heißt die Nachricht, die wir heute übergeben wollen.
Mit dieser Universitäts-Neugründung, die wir heute als eine Wiedergründung vollziehen, bekennt sich das Land Brandenburg zur Region Frankfurt. Die Region Frankfurt ist für uns nicht das Ende des Landes, sondern ein wichtiges Bindeglied zu unseren europäischen Nachbarn, eine Region, die nach meiner Überzeugung gute Chancen hat, die wir gemeinsam angehen wollen. Hierbei ist gerade auch eine Universität von Bedeutung. Frankfurt ist nicht das Ende, sondern Frankfurt ist in vielen Fragen der Anfang und Einstieg in neue Veränderungen, Einstieg in den Aufschwung. Wir wollen mit dieser Universitätsgründung ganz bewußt ein Signal für die Bereitschaft zur europäischen Zusammenarbeit setzen. Wir wissen wohl, daß wir es in den östlichen Ländern Deutschlands noch mit viel Provinzialismus zu tun haben, auch an uns selbst. Provinzialismus, der die Folge von Jahrzehnten der Abgrenzung und der Eingrenzung ist.
Gerade deshalb wissen wir, daß wir die europäische Öffnung brau chen, denn der Veränderungsprozeß, dem wir Demokratie und Freiheit zu verdanken haben, war ein gesamteuropäischer Prozeß. Unsere Nachbarn im Osten, im Westen, im Norden und im Süden haben diese Entwicklung nicht nur geduldet, sondern mitgetragen und mitgefördert. Die Europa-Universität in Frankfurt (Oder) ist ein Zeichen unseres Dankes an Europa. Denn gerade an diesem Fluß und an diesem Ort ist uns bewußt, daß wir zusammengehören, daß hier an der Oder nicht das Ende Europas ist, sondern daß von hier weitergedacht werden muß.
Das Land Brandenburg hat im Grunde eine doppelte Funktion: es ist von seiner Geschichte, von seiner geografischen Beschaffenheit und von der Ethnologie der Bevölkerung her sowohl der Anfang Westeuropas als auch der Anfang Osteuropas. Wir sind uns dieser Aufgabe, die in doppelte Richtung zu gehen hat, bewußt.
Wir wollen nicht alles beiseite werfen, was wir in den letzten vier Jahrzehnten erlebt haben. Wir wissen, daß da auch Werte bei uns gewachsen sind, an denen wir festhalten wollen. Für uns sind diese Jahrzehnte auch eine Schicksalsgemeinschaft gewesen mit den Völkern Osteuropas, die unter gleichen Bedingungen und teilweise schwereren Umständen als wir zu leben hatten.
Wir wissen, daß der Veränderungsprozeß in Europa zunächst in Polen, der CSFR, Ungarn und schließlich auch in der Sowjetunion in Gang gesetzt worden ist. In diesem Prozeß standen wir mittendrin und waren eine Veränderungsgemeinschaft mit unseren osteuropäischen Nachbarn. Wir waren mit die letzten, bei denen diese einschneidenden Veränderungen begannen, und sind die ersten gewesen, bei denen diese einschneidenden Neuerungen zur Einheit Deutschlands und auch zur Einführung der Marktwirtschaft geführt haben.
Und dennoch ist auch der Veränderungsprozeß bei uns noch nicht zu Ende. Wir haben die formale Einheit, wir haben den rechtlichen Rahmen, wir haben die wirtschaftlichen Grundlagen, aber die Veränderung ist sowohl in den Köpfen der Menschen als auch in den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Strukturen noch nicht vollzogen. Wir müssen noch daran arbeiten, und wir dürfen in diesem Prozeß nicht auf die Nachbarschaft und den Gedankenaustausch mit unseren Nachbarn im Osten verzichten.
Ich freue mich über das Interesse der Zusammenarbeit von Seiten unserer polnischen Nachbarn, aus Republiken der Sowjetunion, aus Bulgarien und anderen osteuropäischen Ländern und ich bin sehr froh darüber, daß Partner in Nordeuropa und Westeuropa ebenfalls diese Aufgabe sehen. Wir können darauf hoffen, daß hier gemeinsam über die Zukunft in Europa nachgedacht wird.
Über unsere Alltagssorgen hinweg sind auch die globalen Herausforderungen nicht kleiner geworden. Trotz der offenkundigen Entspannung im Ost-West-Prozeß nehmen die Probleme zwischen Nord und Süd gerade auf der Südhalbkugel der Erde fast täglich zu. Die Chance und die drängende Aufgabe für uns in Europa bestehen darin, daß wir im Zusammenwirken versuchen, gemeinsam die Zukunft zu gestalten.
Ich möchte allen herzlich danken, die mitgeholfen haben, daß schon sichere Gleise für die Aufgaben dieser Universität in die Zukunft hinein gelegt wurden. Ich kann Ihnen zusagen, daß die Landesregierung alles ihr Mögliche tun wird, um dieser Universität den Start zu erleichtern. Wir haben ein Startgebäude gesichert und das ist vielleicht doch ein gutes Omen, daß wir von einem Gebäude, das früher administrativ, bürokratisch und zentralistisch gearbeitet hat, in Zukunft Gespräche, gemeinsame Forschung und Orientierung für die Jugend und die Zukunft erwarten können.
Wir werden von Seiten der Landesregierung die finanziellen Möglichkeiten in Zusammenarbeit mit anderen Bundesländern und der Bundesregierung ausschöpfen. Soviel kann ich nach einem intensiven Gespräch mit dem Finanzminister sagen: aus den zwar schmalen, aber doch immerhin vorhandenen Reserven wird das Land Mittel für diese Universität bereitstellen.
Ich wünsche Ihnen, daß Sie hier auch als Wissenschaftler beitragen, daß dies ein guter Start wird, daß wir hier die Möglichkeiten wahrnehmen können, die für die Region Deutschland und für Europa von Bedeutung sind. Möge das, was jetzt hier gestartet wird, ein Beitrag sein für die Zusammenarbeit der Deutschen und für die Zusammenarbeit in Europa!“