Abteilung für Hochschulkommunikation
Medieninformation Nr. 156-2016
vom 2. September 2016
Europa-Universität Viadrina trauert um Sozialwissenschaftler
Dr. Jan Wielgohs
Die Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) trauert um Dr. Jan Wielgohs. Der am 25. August 2016 im Alter von 59 Jahren verstorbene Sozialwissenschaftler war seit 2000 an der Europa-Universität Viadrina tätig.
Jan Wielgohs wirkte seit 2002 als wissenschaftlicher Koordinator am Frankfurter Institut für Transformationsstudien (FIT), seit 2008 auch als Mitglied der Institutsleitung. Von 2007 bis 2012 war er verantwortlicher Redakteur der Zeitschrift „Berliner Debatte Initial“, der er von 1992 bis zu seinem Tod eng verbunden war. Das von Jan Wielgohs mit herausgegebene Handbuch „Wer war wer in der DDR“ erscheint mittlerweile in der fünften Auflage beim Christoph Links Verlag.
„Die Europa-Universität Viadrina verliert mit Jan Wielgohs nicht nur einen geschätzten Kollegen, sondern eine wichtige intellektuelle Inspiration und einen immer freundlichen, hilfsbereiten, humorvollen und bescheidenen Menschen. Mit seiner ruhigen Ausstrahlung, seinem reichen Wissens- und Erfahrungsschatz sowie mit seinem zutiefst freundlichen Wesen prägte Jan Wielgohs das Frankfurter Institut für Transformationsstudien und trug zur familiär-professionellen Atmosphäre an der Europa-Universität bei. Wir trauern.“, so Prof. Dr. Timm Beichelt, Direktor des Frankfurter Instituts für Transformationsstudien (FIT).
Ein Nachruf von Prof. Dr. Timm Beichelt, Inhaber der Professur für Europa-Studien an der Viadrina und Direktor des Frankfurter Instituts für Transformationsstudien (FIT).
Die Mitglieder der Europa-Universität Viadrina beklagen den Verlust von Dr. Jan Wielgohs, der am 25. August 2016 unerwartet und viel zu früh verstarb. Jan Wielgohs wirkte seit 2002 als Koordinator, seit 2008 auch als Mitglied der Institutsleitung, am Frankfurter Institut für Transformationsstudien (FIT). Mit seiner ruhigen Ausstrahlung, seinem reichen Wissens- und Erfahrungsschatz sowie mit seinem zutiefst freundlichen Wesen prägte er das Institut und trug zur familiär-professionellen Atmosphäre an der Europa-Universität bei.
Die wissenschaftliche Karriere von Jan Wielgohs begann im Jahr 1984 am Institut für Soziologie und Sozialpolitik der Akademie der Wissenschaften der DDR. Seine Dissertation aus dem Jahre 1988 widmete sich der soziologischen Theorie der sozialistischen Lebensweise. Der Fokus auf die „Lebensweise“ enthielt eine bewusste Anspielung an die „Lebenswelt“ von Jürgen Habermas und signalisierte eine latente, vorsichtig abtastende Oppositionshaltung zu den seinerzeit vorherrschenden Dogmen, mit denen er bereits während seines Studiums an der Humboldt-Universität in Konflikt geriet. Zum Kommunismus verhielt sich Jan Wielgohs nicht per se ablehnend, sondern interessierte sich für sein soziales und humanes Potenzial, das er im sowjetischen Modell nicht verwirklicht sah.
Die Konzepte von Lebensweise und Lebenswelt stehen für eine breite Perspektive, mit der sich Jan Wielgohs in seinem gesamten Wirken als Gesellschaftswissenschaftler widmen sollte. Sein erstes wissenschaftliches Interesse galt der russischen Soziologie der Nowosibirsker Schule, einem Reformlaboratorium der sowjetischen Sozialwissenschaft. Deren kritische Herangehensweise unterschied sich deutlich von dem, was in der Zeit der Wiedervereinigung in Westdeutschland unter Kritik und Kritikfähigkeit verstanden wurde. So kamen die Arbeiten Wielgohs‘ zur Bürgerbewegung der DDR, der er sich in den Wendejahren politisch und bald auch wissenschaftlich widmete, mit einem frischen Ton daher. Dieser zeichnete auch sein späteres wissenschaftliches Werk aus: ein Interesse an real beobachtbaren Vorgängen; der Versuch, das Handeln von Personen und Organisationen zu verstehen; eine Skepsis gegenüber abstraktem oder methodenlastigem Vorgehen sowie, nicht zuletzt, eine klare und schnörkellose Sprache.
Mit diesen Fähigkeiten gelang es Jan Wielgohs schnell, in der gesamtdeutschen Wissenschaftslandschaft Fuß zu fassen. Von 1992 bis 1996 war er Mitglied der Max-Planck-Arbeitsgruppe „Transformationsprozesse in den neuen Bundesländern“ an der Humboldt-Universität Berlin, die von Helmut Wiesenthal geleitet wurde. Seine Arbeitsgebiete erweiterten sich entsprechend: Neben die Beschäftigung mit Bürgerbewegungen in Ost- und Westdeutschland trat die Transformationsforschung. Wielgohs setzte sich mit den Umwälzungen auf dem ostdeutschen Wohnungsmarkt auseinander. Dadurch entstand ein Interesse an kollektiven Akteuren, Verbänden und politischen Parteien. Zugleich historisierte sich der Blick auf die sozialistische Epoche. Das von Jan Wielgohs mit herausgegebene Handbuch „Wer war wer in der DDR“ erscheint mittlerweile in der fünften Auflage beim Christoph Links Verlag. Mit jeder Auflage enthielt das Nachschlagewerk neue Einträge. Mit der ihm eigenen Süffisanz verwies Wielgohs bei einer Gelegenheit auf die verwunderliche Tatsache, dass die DDR mit jedem Jahr über neue bedeutende Persönlichkeiten verfügte, obwohl sie doch gar nicht mehr existierte.
An der Humboldt-Universität blieb Jan Wielgohs noch einige Jahre und kooperierte weiter eng mit Helmut Wiesenthal. Erneut erweiterte er seinen Themenkreis, indem er sich in die vergleichende Analyse von Transformationsprozessen einarbeitete. Zusammen mit Jürgen Beyer entstanden Artikel zur Unternehmensprivatisierung. Mit Detlef Pollack und Frank Bönker, zwei weiteren wichtigen Weggefährten, wendete er sich dem Verhältnis von Kultur, Wirtschaft und Politik im Kontext von Transformationsprozessen zu. Im Fokus blieb auch Russland mit seiner politischen Entwicklung und der Lage der Sozialwissenschaft. Darin äußerte sich ein Wesenszug von Jan Wielgohs, der auch sein privates Leben prägte. Dingen und (vor allem!) Menschen, denen er einmal verbunden war, blieb er treu. Geschehnisse in Russland verfolgte er seit einem einjährigen Studienaufenthalt an der Moskauer Lomonossow-Universität mit zugleich empathischem und kritischem Interesse.
Die vielfältigen Interessen, Kenntnisse und Fähigkeiten von Jan Wielgohs flossen in erheblichem Maße in die Zeitschrift „Berliner Debatte Initial“ ein. Von 2007 bis 2012 fungierte Wielgohs bei der Zeitschrift, der er seit 1992 verbunden war, auch als verantwortlicher Redakteur. Die Berliner Debatte, als gemeinsames Projekt von Wissenschaftlern aus Ost- und Westdeutschland betrieben, diente vielleicht als eigentlicher Inspirationsort für sein Wirken. Wo so unterschiedliche Autoren wie Jürgen Habermas, Andranik Migranjan, Wolfgang Templin und Georgi Schachnasarow zusammentrafen, entfalteten sich die Talente von Jan Wielgohs in besonderem Maße. Er besaß die Fähigkeit, Denktradition und Menschen aus unterschiedlichen Ländern und Wissensgebieten miteinander in Austausch treten zu lassen. Mit dieser Eigenschaft fehlt er uns nicht nur menschlich. Ausgaben der Berliner Debatte unter seiner Verantwortung – und fast immer in Kooperation mit langjährigen Mitstreiterinnen und Mitstreitern – brachten immer eine Vielzahl von Autoren mit ganz unterschiedlichen Hintergründen zusammen.
Trotz der immer präsenten Lederjacke, die möglicherweise noch unter dem Ladentisch des Centrum Warenhauses in Ostberlin in seinen Besitz übergegangen war, strahlte Jan Wielgohs eine erhebliche Weltläufigkeit aus. Mit seinen institutionellen Aufenthalten an der Akademie der Wissenschaften der UdSSR in Moskau, an der University of Ulster, der University of California in Berkeley und der University of Austin/Texas sind seine Auslandserfahrungen unvollständig beschrieben. Jan Wielgohs gehörte zu den in Wissenschaftlerkreisen seltenen Personen, die sich die Beschreibung und Analyse eines Gegenstandes erst dann zutrauen, wenn sie die Dinge in persönlichen Augenschein genommen haben. Längere Privataufenthalte und Exkursionen führten ihn nach Südafrika, Südkorea, erneut in die USA und in fast alle europäischen Transitionsstaaten. Natürlich gehörten immer wieder Russland und die Nachfolgestaaten der Sowjetunion zu seinen Zielen. Im September 2016 wäre er erneut aufgebrochen: mit dem Zug nach Odessa, Tiraspol, Tschernowitz und Lwiw. Der reiche Erfahrungsschatz, den er bei seinen Auslandsaufenthalten Stück für Stück aufbaute, diente auch als Bezugspunkt für den Politikwissenschaftler Jan Wielgohs. Politische Entwicklungen sah er als eingebettet in spezifische gesellschaftliche Zusammenhänge, insbesondere der Wirtschaft und der organisierten Interessen.
Seit dem Jahr 2000 war Jan Wielgohs der Europa-Universität verbunden. Mit Detlef Pollack, Anna Schwarz, Hans-Jürgen Wagener und später mit Jürgen Neyer und Timm Beichelt prägte er das Institut für Transformationsstudien, als dessen Koordinator er seit 2002 fungierte. In unzähligen Universitätsveranstaltungen, auf Tagungen und bei Kolloquiumssitzungen war sein Urteil gefragt und geschätzt. Zu seinen Arbeitsgebieten hinzu kam die Europäische Integration, insbesondere das Konzept des Sozialen Europa. Während um das Viadrina Center B/Orders in Motion vor allem institutionell gerungen wurde, ging er an die inhaltliche Arbeit und veranstaltete eine Sommerschule, aus der im Jahr 2013 das Buch „Borders and Border Regions in Europe“ entstand, das er zusammen mit Arnaud Lechevalier von der Universität Panthéon-Sorbonne (Paris-1) herausgab.
Seine Publikationsaktivitäten umfassten insgesamt 18 herausgegebene Bücher, über 50 Aufsätze und viele sonstige Schriften wie Rezensionen und Kurzbeiträge. In redaktionellen Angelegenheiten waren seine Sorgfalt und sein unbestechliches Urteil bei wissenschaftlichem Jargon schwer zu übertreffen. In unzähligen Kolloquien und sonstigen Veranstaltungen der Europa-Universität trat er als Mentor für Doktorandinnen und Doktoranden auf. Seine Lehrveranstaltungen waren beliebt, seine Betreuungsleistungen im Lehrbetrieb beträchtlich.
Die Europa-Universität Viadrina verliert mit Jan Wielgohs nicht nur einen geschätzten Kollegen, sondern eine wichtige intellektuelle Inspiration und einen immer freundlichen, hilfsbereiten, humorvollen und bescheidenen Menschen.
Wir trauern.
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