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Manchmal ist es für Somaiya Meer schwer, sich auf ihre Doktorarbeit zu konzentrieren. Dann erfährt sie von neuen Gesetzen, die die Taliban in ihrem Heimatland Afghanistan gegen Frauen erlassen oder sie liest bei Instagram über Studentinnen, die sie bis 2021 in Kabul in Englisch unterrichtete und die sich heute über Kochrezepte und Handarbeiten austauschen. „Ich denke dauernd daran, dass ich hier meine Doktorarbeit schreibe, während Frauen in meiner Heimat der Zugang zu Bildung verwehrt wird. Ich habe zeitweise sogar meine Konzentration fürs Schreiben verloren, weil ich so sehr daran denken musste“, erzählt sie.
Seit zwei Jahren arbeitet Somaiya Meer an der Viadrina an ihrer Dissertation über die afghanische Diaspora in Deutschland. Möglich wurde das durch ein DAAD-Stipendium im Rahmen des Hilde Domin-Programmes für gefährdete Doktorandinnen und Doktoranden. Eigentlich hatte sie vor, mit einem Stipendium nur zeitweise ins Ausland zu gehen, um ihren Doktor zu machen und danach weiter in Afghanistan an ihrer Karriere zu arbeiten. Sie hatte bereits mit der Viadrina-Linguistin Prof. Dr. Britta Schneider Kontakt aufgenommen und angefangen, das Thema ihrer Arbeit zu umreißen. Doch die Machtübernahme der Taliban im August 2021 veränderte vieles. Auf die Frage ihrer Tochter, was aus ihr werde, wusste Somaiya Meer plötzlich keine Antwort mehr. Und in ihrem Institut wurde klar: Wenn sie jetzt Afghanistan verlässt, verliert sie ihre Stelle. „Es war eine schwierige Entscheidung, aber ich wollte meine Bildung weiterführen“, schaut sie auf diese kritischen Monate zurück.
Als sogenannte Ortskraft, die mit deutschen Institutionen zusammengearbeitet hatte, wurde Somaiya Meer gemeinsam mit ihrem Mann und den vier Kindern ausgeflogen – und landete als Geflüchtete in Sachsen-Anhalt. „Bei meinem ersten Telefonat habe ich Britta Schneider angerufen. Sie war überrascht, aber auch gleich hilfsbereit. Das war so motivierend in einer Zeit, in der ich gar nicht wusste, was passiert“, erinnert sich die Doktorandin. Nach mehreren Monaten und dem Überwinden vieler bürokratischer Hürden, konnte Somaiya Meer im Herbst 2022 ihr Stipendium an der Viadrina antreten. Gemeinsam mit ihrer Familie zog sie wenig später – auch dank der Hilfe von Britta Schneider und Mateusz Weis-Banaszczyk von der Abteilung für Internationale Angelegenheiten der Viadrina – nach Frankfurt (Oder).
Seitdem arbeitet sie an der Viadrina an ihrem Dissertationsprojekt: eine soziolinguistische Studie über die afghanische Diaspora in Deutschland. Dafür hat sie in den vergangenen Jahren Dutzende Interviews mit Afghaninnen und Afghanen geführt, die auf ganz unterschiedliche Weise nach Deutschland gekommen sind: von hochqualifizierten Menschen, die oft mit Stipendien eingereist sind, über Geflüchtete, die auf verschlungenen Wegen – teilweise illegal – kamen und ihre Muttersprache vielfach nur mündlich beherrschen, bis zu Jugendlichen, die mit ihren Eltern einreisten oder in Deutschland geboren sind und im deutschen Bildungssystem aufwachsen. Was ihnen allen gemein ist: Sie betonen im Rückblick die Bedeutung der deutschen Sprache für ihre Integration. „Das Besondere in der afghanischen Community ist, dass es so viele Sprachen und Kulturen gibt“, sagt Somaiya Meer. Sie selbst ist mit Usbekisch als Muttersprache aufgewachsen, hat als Kind Persisch und Paschto gelernt, später Englisch und nun Deutsch. Dass sie Afghanin ist und die Interviews teilweise in den Herkunftssprachen halten kann, hilft ihr, das Vertrauen der Interviewten zu gewinnen. Auch die Lebenswege, von denen ihr berichtet wird, haben viel mit ihrer eigenen Biografie zu tun. „Ich finde mich selbst in meiner Forschung wieder“, sagt sie.
Somaiya Meer spricht engagiert über ihre Forschung, über die Erfolge ihrer Kinder in der Schule und die Pläne von ihrem Mann, der Deutsch lernt, um später wieder als Chirurg in der Region zu arbeiten. Wenn ihre Gedanken aber nach Afghanistan gehen, trübt sich ihr Blick. Auch ihre Geschwister sind aufgrund ihrer Tätigkeiten für internationale Organisationen ins Ausland gegangen, zurück blieben die Eltern, mit denen sie nun täglich telefoniert. „Ich komme aus einem sehr gebildeten Elternhaus, meine Mutter ist Lehrerin, mein Vater Universitätsprofessor. Er hat als leitender Berater und stellvertretender Minister für Hochschulbildung gearbeitet. Es ist sehr hart für ihn, in einem Land zu leben, in dem Bildung nicht geschätzt wird“, sagt sie. Ein Gefühl, dass Somaiya Meer selbst gut kennt. Bei der Machtergreifung der Taliban 1996, war sie 15 Jahre alt und durfte von einem Tag auf den anderen nicht mehr in die Schule gehen. Sie unterrichtete damals heimlich ihre Geschwister zu Hause, später auch die Nachbarskinder. „Ich kenne den wahren Wert von Bildung“, sagt sie. Nach ihrer Promotion möchte sie als Dozentin arbeiten, für Nichtregierungsorganisationen oder auch für Programme, die gefährdete Forschende unterstützen. Der Gedanke an die Frauen, die in Afghanistan geblieben sind, lässt sie nicht los: „Ich kann hier lernen und forschen und schreiben. Ich möchte gern die Stimme von den Frauen sein, die das nicht mehr dürfen.“
Text: Frauke Adesiyan
Foto: Heide Fest
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