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Prof. Kaya, welche deutsch-türkischen Schwerpunkte setzen Sie in Ihrer Arbeit als Politikwissenschaftler?
Seit meiner Promotion in den späten 1990er-Jahren beschäftige ich mich mit den Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft in Deutschland mit besonderem Augenmerk auf muslimische Migrantinnen und Migranten sowie ihre Nachkommen. Ich begann mit der Arbeit über die deutsch-türkische Hip-Hop-Jugend und habe mich dann mit anderen sozioökonomischen, politischen, kulturellen und emotionalen Aspekten von Migration und Transmigration im deutsch-türkischen transnationalen Raum beschäftigt. Darüber hinaus habe ich auch die sich verändernden Muster der Diasporapolitik des türkischen Staates in den vergangenen drei Jahrzehnten untersucht.
Welche Erfahrungen haben Sie als Gastprofessor an der Viadrina und im Alltag in Deutschland gemacht?
Deutschland scheint mir sehr in Ost und West gespalten zu sein. Es hat den Anschein, dass die negativen Auswirkungen der Wiedervereinigung von 1990 noch immer nicht überwunden sind. Dies zeigt sich im Alltag, wenn die Bewohner Ostdeutschlands über relative sozioökonomische Missstände, regionale Ungleichheiten, Abwanderungsprobleme, eine schrumpfende und alternde Bevölkerung und eine wachsende Ostalgie unter den jungen Menschen klagen. Aus all diesen Gründen ist es für einen Sozialwissenschaftler immer noch eine sehr interessante Erfahrung, in Deutschland zu sein. Für mich ist der Aufenthalt in Frankfurt (Oder) und die Lehrtätigkeit an der Viadrina eine großartige Gelegenheit, meine Gedanken und Erkenntnisse mit einer sehr heterogenen Studierendenschaft sowie mit den Kolleginnen und Kollegen auszutauschen. Außerdem habe ich in der Zwischenzeit meine Beobachtungen und Forschungen fortgesetzt, da die Ergebnisse der Wahlen zum Europäischen Parlament sowohl in Deutschland als auch in anderen Teilen Europas viel Stoff zum Nachdenken bieten.
Unter anderem haben Sie an der Viadrina ein Seminar zu aktuellen Debatten über die Türkei und die Europäische Union gegeben. Was wollten Sie darin vermitteln?
Mir geht es vor allem darum, den Studierenden eine andere Perspektive zu vermitteln. Deutsche staatliche Akteure neigen dazu, die Türkei vor allem durch die Dynamik der türkischstämmigen Migrantinnen und Migranten und ihrer in Deutschland lebenden Nachkommen wahrzunehmen und dabei die sozioökonomischen, politischen und kulturellen Stärken der Türkei als eigenständige Einheit zu übersehen. Auf der anderen Seite haben türkische staatliche Akteure Deutschland jahrzehntelang als eine wirtschaftliche, politische und technologische Einheit gesehen und dabei die Brückenfunktion der türkischstämmigen Menschen in Deutschland vernachlässigt. Ich versuche hier also, den Studierenden die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aspekte der heutigen Türkei nahe zu bringen und sie zu befähigen, die Türkei als eigenständigen Akteur mit vielfältigen Debatten und pfadabhängiger politischer und gesellschaftlicher Entwicklung zu sehen.
Sie sind mit der Viadrina auch über das Projekt ValEUs verbunden, das darauf abzielt, aktuelle Herausforderungen für die Europäische Union zu erörtern und mögliche Gegenstrategien zu erforschen. Können Sie Ihre Rolle in diesem Projekt erläutern?
Das Projekt ValEUs wird von der Viadrina geleitet; die Bilgi Universität ist einer von vielen verschiedenen Partnern auf fünf Kontinenten. Es ist ein großartiges Netzwerkprojekt, das die Relevanz und Bedeutung von Werten in der europäischen Außenpolitik unterstreicht. Wir leiten gemeinsam mit der Universität Roskilde das Arbeitspaket 4, in dem es um die Entwicklung gemeinsamer Lehrangebote geht, wie z. B. die Organisation von Sommerschulen in Guadalajara, Roskilde und Istanbul, die Vorbereitung eines Massive Open Online Course (MOOC) und die Unterstützung bei der Zusammenarbeit mit ukrainischen Partnern in Kyjiw und Charkiw. Bei der Zusammenarbeit mit unseren Partnern und bei öffentlichen Veranstaltungen betonen wir häufig, dass die Türkei immer noch ein Kandidatenland für die EU ist. Wir argumentieren, dass die Türkei eine Schlüsselrolle bei der Schaffung und Sicherung von Frieden und Wohlstand im Nahen Osten, im Kaukasus, im östlichen Mittelmeerraum und Nordafrika spielt.
Wie kann das ValEUs-Projekt Ihrer Meinung nach zu einer effektiveren und werteorientierten EU-Außenpolitik beitragen?
Die EU ist eine materielle und immaterielle Macht mit einem sehr starken Transformationspotenzial innerhalb und außerhalb Europas. Es scheint jedoch, dass sie dieses Potenzial bereits vergessen hat. Als Europawissenschaftler bin ich der Meinung, dass wir Wege finden müssen, um die politischen Entscheidungsträger auf nationaler, lokaler und europäischer Ebene daran zu erinnern, dass die EU dem Rest der Welt in Bezug auf Demokratie, Menschenrechte und freie Marktwirtschaft noch viel zu bieten hat. All diese Merkmale scheinen jedoch in letzter Zeit aufgrund des Mangels an einer starken politischen Führung in der EU vernachlässigt worden zu sein.
Dieses Interview ist die gekürzte Version eines Gespräches, das Durmus Dikmen (wissenschaftliche Hilfskraft am MES) für den Newsletter des Master of European Studies geführt hat.
Foto: Katrin Hartmann
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