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In Ihrem Forschungsprojekt beschäftigen Sie sich mit der kolonialen Moderne. Was genau meinen Sie mit diesem Begriff?
Dr. Pablo Valdivia: Wir insistieren darauf, dass die Moderne konstitutiv mit dem Kolonialprojekt verwoben ist, dass sie ohne das Kolonialprojekt gar nicht zu denken oder zu verstehen ist. Damit verstehen wir unsere Arbeit als theoretische Intervention gegen Vorstellungen, dass sich die Moderne allein aus sich heraus, aus dem Westen entwickelt hat. Sie ist untrennbar verwoben mit der Eroberung des nichteuropäischen und nichtwestlichen Raumes und den materiellen, intellektuellen und auch technologischen, politischen Veränderungen, die im Zuge dieser Eroberung an Kontur gewinnen.
Prof. Dr. Katja Diefenbach: Es existiert ein eurozentrisches Narrativ, denken wir an Hegels „Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte“, das die Moderne als Fortschritts- und Rationalitätsprojekt aus innereuropäischen Ursachen erklärt und in eine aufsteigende Entwicklungslinie einträgt, die von Süd- nach Nordeuropa führt und Stationen wie Renaissance, Reformation und die aus den bürgerlichen Revolutionen hervorgehende formale Rechtsstaatlichkeit umfasst. Angesichts dieses eurozentrischen Moderne-Verständnisses, aus dem die kolonialen Anderen samt ihrer Widerstände, Revolutionen oder Kosmovisionen verschwunden bzw. auf niedere Ränge verwiesen worden sind, wollen wir unseren Blick wenden und zeigen, dass die Moderne aus den gewalttätigen Kontaktzonen zwischen dem globalen Süden und der Expansionsbewegung des frühkapitalistischen Europas entstanden ist, ein Europa, das im Rahmen von Krieg, Landnahme sowie sklavenbasierten Bergbau- und Plantagenökonomien Reichtum und Wissen akkumuliert hat. In dieser Hinsicht wollen wir einen umfassenden Blickwechsel organisieren.
Leiten das Forschungsprojekt gemeinsam: Dr. Pablo Valdivia, Prof. Dr. Ruth Sonderegger (Mitte) und Prof. Dr. Katja Diefenbach
Ist dieses Zusammendenken von Moderne und Kolonialismus neu?
Pablo Valdivia: Als Schlagwort ist die Verquickung zwischen Moderne und Kolonialismus durchaus akzeptiert. Eine innovative Kraft hat unsere Überzeugung, dass wir Geschichte nicht mehr unter Ausklammerung der Kolonialgeschichte erzählen können. Derzeit wird sie immer noch sehr hegemonial und eurozentrisch betrachtet. In Konferenzen oder Veröffentlichungen gibt es häufig nur ein nachgereichtes schlechtes Gewissen. Man hängt noch ein Kapitel mit feministischer oder postkolonialer Perspektive an. Nach wie vor ist es kein Problem, diese Perspektiven, sofern sie vermeintlich nur ‚spezialisierte’ Disziplinen sind, einfach auszublenden. Unser Anspruch ist es, diese Perspektiven ins Zentrum zu stellen, weil die damit aufgerufenen Fragen und Kontexte die konstitutive Rückseite jenes vermeintlich ‚allgemeinen‘ Sprechens sind.
Vor Kurzem haben Sie zu einer großen Konferenz im Rahmen Ihres Projektes eingeladen. Worum ging es dabei?
Katja Diefenbach: Die dreitägige Konferenz „Belligerent Accumulation“ war ein erster Höhepunkt unseres Forschungsprojekts. Vor allem aus dem Bereich der Philosophiegeschichte, aber auch der ästhetischen Theorie haben wir Wissenschaftler*innen – wie Mary Nyquist (University of Toronto), Robert Bernasconi (Penn State University), Ashley Bohrer (University of Notre Dame) und Candice Chuh (CUNY, New York) – eingeladen, um die koloniale Moderne und ihre Rassismen im Spiegel philosophischer Legitimationsmuster zu kritisieren. Dabei haben wir uns vor allem auf die ideologische Formationsphase der Moderne zwischen Spätscholastik, rationalem Naturrecht und beginnender ästhetischer Philosophie konzentriert, um Kontinuitäten und Brüche in den philosophischen Rechtfertigungen des europäischen Kolonialismus und damit Variationsmuster epistemischer Gewalt aufzuzeigen.
Die Konferenz mit dem Titel „Belligernet Accumulation“ fand vom 23. bis zum 25. Mai 2024 an der Viadrina statt.
Können Sie diese Entwicklungen an einem Beispiel erklären?
Katja Diefenbach: Die Schule von Salamanca hat im 16. Jahrhundert – noch in universaltheologischem Rahmen – eine frühe naturrechtliche Verteidigung der Kolonialität geleistet: Einerseits weisen die spanischen Theologen den Eigentumsanspruch von Krone und Kirche auf die Kolonien zurück; sie erkennen die indigene Bevölkerung der Amerikas als Teil der universalen Menschheit an. Wenn diese aber das universale Niederlassungs-, Tausch- und Handelsrecht der Spanier bestreitet – egal wie ausbeuterisch deren Systeme funktionieren –, ermächtigt dies die Eroberer, einen gerechten Krieg gegen Inka und Mexika zu führen. Hobbes und Locke greifen im 17. Jahrhundert diese naturrechtliche Argumentation der spanischen Theologen auf, drehen das Argument aber um: Sie identifizieren die First Nations mit dem Naturzustand und sprechen ihnen ab, das Land so zu bebauen oder zu regieren, dass sie Eigentümer oder Souveräne der Amerikas sein können. Die kritischen Betrachtungen auf der Konferenz reichten bis ins 18. Jahrhundert zu Kant, der sehr wohl koloniale Landnahme kritisiert, gleichzeitig aber mit rassistischen Argumenten Subjekte aus der Erfahrung des Schönen oder der Sublimierung ausschließt und ihre Fähigkeit zu ästhetischer Reflexivität bestreitet.
Wie gehören die angesprochenen rechtlichen, wirtschaftlichen und ästhetischen Aspekte dabei zusammen?
Pablo Valdivia: Wir sind gerade bei der Konsolidierung unserer Anfangsthese, dass das Koloniale der Moderne eine Verquickung der Felder Recht, Ökonomie des Verwertens und Ästhetik ist. Es ist der Nexus zwischen diesen drei Feldern, der es der kolonialen Moderne ermöglicht, sich so weitverzweigt und wirkungsmächtig als vorgebliche historische Notwendigkeit zu behaupten. Dieses Zusammenspiel ordnet und unterscheidet Menschen zwischen denen, die an der Spitze der Geschichte stehen und denen, die außerhalb der Geschichte stehen, weil sie entrechtet sind, weil sie nicht richtig verwerten, weil sie nicht zum ästhetischen Genuss fähig sind. Diesen Befund haben wir in den vergangenen Monaten und auch auf der Konferenz weiter problematisiert und erhärtet.
Wie arbeiten Sie dabei mit der historischen Literatur?
Pablo Valdivia: Das Material ist für sich und aus einer bestimmten Tradition heraus erschlossen und kommentiert. Entscheidend für unsere Arbeitsweise ist, dass wir aus unseren jeweiligen Kompetenzen andere Perspektiven zusammenführen und so durchaus kanonische Texte in neue Konstellationen stellen. Wir arbeiten historisch genauer, stellen Bezüge her und denken Gleichzeitigkeiten mit, die die klassische Philosophie im Sinne ihrer Vernunfts- und Fortschrittserzählung ausblendet.
Welche Bedeutung hat diese Beschäftigung mit den historischen Texten und Denkschulen für unsere heutige Perspektive?
Katja Diefenbach: Wir arbeiten an philosophischen Gründungskategorien der kolonialen Moderne, um für die heutige Zeit gewappnet zu sein. Eine Zeit, in der Fragen der Ungleichheit, der kapitalistischen Ausbeutung und rassistischen Gewalt weiterhin aktuell sind. Wir geben Mittel an die Hand, um die Transformation moderner Herrschaftsprozesse erkennen, kritisieren und vielleicht auch eines Tages in emanzipatorischer Hinsicht ändern zu können. Es gibt aktuell viele Angriffe auf die postkoloniale und dekoloniale Theorie, sie sei identitär, partikular etc. Aber diese oft in polemischer und kulturkämpferischer Weise vorgetragene Kritik, die von einer gewollten Unkenntnis geprägt ist, verkennt die zentralen Aspekte der dekolonialen Philosophie, nämlich eine kritische Perspektive auf globale Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse zu werfen, die ambivalenz- und differenzbewusst ist und an einem Universalismus von unten arbeitet. So können die besitzindividualistischen Herrschaftsdimensionen philosophischer Kategorien der kolonialen Moderne wie Autonomie, Aneignung, Eigentum oder Recht aufgezeigt und diskutiert werden.
Interview und Fotos: Frauke Adesiyan
Das Forschungsprojekt „Wahrnehmen, Rechtsprechen und Verwerten in der kolonialen Moderne. Zum Nexus von ursprünglicher Akkumulation, Race und westlicher Ästhetik“ ist von Katja Diefenbach (Viadrina), Ruth Sonderegger (Akademie der Bildenden Künste, Wien) und Pablo Valdivia (Viadrina) initiiert worden und wird von der VolkswagenStiftung gefördert.
Eine weitere Konferenz mit dem Titel „After Autonomy. Towards Decolonial Aesthetics and the Question of Minor Relationalities“ findet am 26. und 27. September 2024 an der Akademie der Bildenden Künste, Wien, statt.
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