„Wahlkämpfe sind so interessant, weil sie wirklich einen Unterschied machen.“

Prof. Dr. Ulrike Klinger forscht an der European New School of Digital Studies (ENS) der Viadrina unter anderem zu Technologie und Gesellschaft, politischer Kommunikation und digitaler Demokratie. Anfang September ist sie nach Los Angeles gereist, um das renommierte Thomas Mann Fellowship anzutreten. Kurz vor ihrem dreimonatigen Aufenthalt in den USA haben wir mit ihr über digitale Demokratie, „election denialism“ und die Unterschiede in US-amerikanischen und europäischen Wahlkämpfen gesprochen.  

Ulrike Klinger im Arbeitszimmer des Thomas Mann House Los Angeles

Ulrike Klinger im Arbeitszimmer des Thomas Mann House Los Angeles


Frau Klinger, vielleicht erstmal ganz grundlegend: Was versteht man genau unter „digitaler Demokratie“?

Das ist ein sehr breiter Begriff. Ich interessiere mich dabei vor allem für politische Kommunikation und wie digitale Technologien Demokratien und Öffentlichkeiten verändern. Wie verändert Digitalisierung, wie wir miteinander kommunizieren, wie wir miteinander sprechen, wie wir Informationen bekommen und was wir wissen können? Wie konstruieren wir unsere Realität und die Vorstellungen davon, was die Welt ist, was Probleme sind und was Lösungen? All das sind Dinge, die wir nicht direkt erfahren können, sondern die medial vermittelt sind. Wie das funktioniert, verändert sich immer dann, wenn Medien und Technologien, die Medien zugrunde liegen, sich verändern. Ob es plötzlich Fernsehen oder Radio gibt, Social Media oder jetzt eben Künstliche Intelligenz. Das ist jedes Mal die neue Debatte: Ist das jetzt alles ganz furchtbar; ist das das Ende der Demokratie oder ist es vielleicht auch ganz toll? Wenn wir zum Beispiel ganz konkret über Künstliche Intelligenz reden: Wie nutzen Leute solche Tools, um sich politisch zu informieren und was bedeutet das? Gerade gab es eine Studie von AlgorithmWatch. Die haben Chat-Bots wie ChatGPT und Gemini zu den Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen befragt und überprüft, wie korrekt die Antworten sind. Denn Bürger*innen benutzen ChatGPT auch als eine Art Wahlentscheidungshilfe oder Suchmaschine. Das Ergebnis war, dass in der kostenfreien Variante 30 % der Antworten falsch sind, auch zu so simplen Dingen wie dem Wahldatum!

Aktuell arbeiten Sie für drei Monate im Rahmen des Thomas Mann Fellowship in Los Angeles. Ihr Projekt konzentriert sich auf „Akteure und Behauptungen, die die Legitimität der Wahlen selbst in Frage stellen“. Was genau untersuchen Sie?

Für die Frage, wie digitale Technologien Demokratien verändern, sind Wahlkämpfe natürlich sehr interessant. Dieses Jahr ist besonders, weil es unheimlich viele Wahlen gibt, in über 60 Ländern. Es ist ein Superwahljahr und da sind ein paar richtig große Wahlen dabei: die EU-Wahl und die US-Wahl zum Beispiel. Diese zwei allein entscheiden über die Zukunft von über 800 Millionen Menschen. Es ist sehr selten, dass die Wahlen zum Europäischen Parlament und die US-Wahlen im selben Jahr stattfinden. Die Europawahlen sind interessant, weil sie uns die Möglichkeit geben, diese Länder trotz ihrer sehr unterschiedlichen Mediensysteme, politischen Systeme, Parteiensysteme, oder des Wahlrechts europaweit zu vergleichen. Wie laufen Wahlkämpfe, mit welchen Dynamiken? Ich leite ein Projekt, in dem wir die EU-Wahlkämpfe auf Social Media seit 2014 vergleichen. In diesem Superwahljahr können wir nun auch transatlantisch vergleichen. Für die drei Monate in Los Angeles liegt mein Fokus speziell auf „election denialism“, also faktisch falsche Behauptungen von Wahlbetrug und der Delegitimierung von demokratischen Wahlen. Das sind zum Beispiel Behauptungen wie, Briefwahl lade systematisch zu Wahlbetrug ein. Natürlich ist es essenziell, dass Wahlen wirklich korrekt ablaufen. Denken wir zum Beispiel an die Bundestagswahl in Berlin, als dann plötzlich nach 18 Uhr noch gewählt werden durfte; das kann und muss man natürlich skandalisieren. Aber bei „election denialism“ geht es eben um faktisch falsche Behauptungen, nach der Logik: Ich habe nicht gewonnen und deswegen demontiere ich jetzt die ganzen Wahlen.
Solche Behauptungen haben wir viel und oft von den Republikanern und von Donald Trump gehört, der Wahlergebnisse nur dann anerkennt, wenn er gewinnt. Ich finde die Frage interessant: Ist das etwas, das auch in Europa, in Deutschland zunimmt? Das analysieren wir gerade im Europa-Wahlkampf. Haben Parteien oder Politiker*innen die Wahlen oder das Wahlergebnis in Zweifel gezogen – und wenn ja, welche Parteien? Wir analysieren dazu die Facebook-Postings von 170 Parteien in zehn EU-Ländern.

Ihre Analyse zur Europawahl ist zwar noch nicht abgeschlossen, lassen sich trotzdem schon Tendenzen erkennen, inwiefern sich US-amerikanische Wahlkämpfe von europäischen unterscheiden?

Wir analysieren noch, aber grundlegend sind US-Wahlkämpfe sehr anders als europäische. Amerikanische Präsidentschaftswahlkämpfe sind wissenschaftlich spannend, weil sie sehr innovativ sind. Zum einen geht es um sehr viel Macht, die anders als in Europa nicht in Koalitionen geteilt wird. Auch wenn das Wahlergebnis extrem knapp ist: The winner takes it all. Zum anderen wird daher sehr viel investiert. Diese Kombination aus hohem Impact und finanziellen Ressourcen führt zu Innovationen. Die Parteien probieren neue Dinge aus: die Teams arbeiten sehr professionell und können es sich leisten, sehr viele sehr gute Leute einzustellen. Etwas Neues auszuprobieren, das kostet richtig Geld. Das kann man in einem deutschen Landtagswahlkampf oder auch in einem europäischen Wahlkampf so gar nicht machen. Zudem gibt es in den USA vergleichsweise wenig Regulierung. Parteien sind dort private Vereine, die mit privatem Geld ihren Wahlkampf organisieren und relativ frei sind, auch Dinge zu tun, die in Europa so nicht möglich wären. Wir haben viel stärkere Regeln der Parteienfinanzierung, Transparenzregeln – und das ist gut so! Aber diese Freiräume, plus Geld, plus Macht sind Innovationstreiber. Deshalb sieht man in US- Wahlkämpfen oft Strategien und Technologien, die dann später auch anderswo angewandt werden.

Was macht Wahlkämpfe so bedeutsam?

Ich untersuche Wahlkämpfe und Social Media seit ungefähr 2010 und sie sind jedes Mal wieder voller Überraschungen. Wahlkämpfe sind so interessant, weil sie wirklich einen Unterschied machen; sie haben wirklich einen Einfluss auf das Wahlergebnis. Weniger in dem Sinne, dass Wahlkämpfe Bürger*innen dazu bringen, ihre politischen Einstellungen zu ändern. Wenn Leute gefestigte politische Präferenzen haben, lassen sie sich nicht überzeugen von einem Wahlplakat oder Inhalten, die sie auf Social Media sehen. Aber immer mehr Leute haben diese gefestigten Präferenzen eben nicht, sie sind Wechselwähler*innen. Außerdem werden viele Wahlen immer knapper. Deswegen geht es vor allem um Mobilisierung. Das ist der Kern von Wahlkämpfen. Es geht darum, dass die Leute, die einen unterstützen, tatsächlich ihre Stimme abgeben. Das sehen wir jetzt auch in den USA. Kann Kamala Harris die demokratische Wählerbasis besser mobilisieren als Biden? Viele glauben, dass das so ist und es eine neue Dynamik im Wahlkampf gibt, aber das werden wir erst im November sehen. Es ist wirklich alles offen.

Wie verändert es Ihre Forschung, dass Sie die nächsten drei Monate in den USA sein werden?

Das Thomas Mann House Los Angeles ist ein ganz spezieller, toller Ort. Das war das Wohnhaus von Thomas Mann im kalifornischen Exil. Er hat sich dort sehr politisch engagiert, Radioansprachen an die deutschen Hörer aufgenommen, sich sehr stark gegen den Nationalsozialismus positioniert. Insofern ist das ein besonderer Ort, wenn man über Demokratie und die Zukunft von Demokratie und auch Gefahren für Demokratien nachdenken will. Ich glaube aber auch, dass es in der Region sehr spannend für mich sein wird. Ich werde ein paar Vorträge halten, zum Beispiel an der University of California in Los Angeles (UCLA) und Santa Barbara (UCSB) und organisiere einen Workshop zu Medien und Künstlicher Intelligenz im Thomas Mann House. Ich bleibe aber nicht nur in Kalifornien, sondern organisiere eine Tagung mit Kolleg*innen an der University of North Carolina in Chapel Hill (UNC). North Carolina ist einer von diesen „battleground states“ in diesem Jahr, in denen man überhaupt nicht vorhersagen kann, wer dort die Wahlen gewinnen wird. Das ist aber sehr wichtig, weil in amerikanischen Wahlen nicht die Mehrheit der Stimmen entscheidet, sondern ein Gremium aus Wahldelegierten der Bundesstaaten. Deswegen wird sich der Wahlkampf im Endeffekt auf fünf, sechs, vielleicht sieben Staaten konzentrieren und wer diese gewinnt, gewinnt die Wahl. Kamala Harris oder Donald Trump müssen nicht überall gewinnen; sie müssen in diesen „battleground states“ gewinnen und dort tobt dann der Wahlkampf. Ich analysiere zwar vor allem die Online-Kampagnen der Parteien, aber es ist für den Kontext wichtig vor Ort zu sein, sich mit Kolleginnen und Kollegen auszutauschen und zu sehen, wie es in so einem „battleground state“ ein paar Wochen vor der Wahl zugeht.

Sie haben gerade das Engagement von Thomas Mann für Demokratie angesprochen. War diese Tradition ein Grund, sich für das Fellowship zu bewerben?

Das Thomas Mann House ist natürlich ein toller Ort – da möchte man gern mal hin. Vor allem war aber das Jahresthema „vulnerabilities of democracy“, also Verletzlichkeit von Demokratie, einfach ein Volltreffer. Das ist genau mein Thema. Deswegen war es irgendwie logisch und sehr naheliegend, einen Projektvorschlag einzusenden. Ich habe nicht damit gerechnet, dass das klappt. Deswegen hat mich die Einladung sehr gefreut und ich bin auch dankbar, dass die Viadrina mir diese Reise ermöglicht, um in den USA zu forschen, neue Kontakte und Netzwerke aufzubauen. 

Text: Lea Schüler

Ergebnisse zu Infos von ChatBots zu den Landtagswahlen von AlgorithmWatch

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