Über engagierte Wissenschaft, illiberale Stimmen und rote Linien – Interview zur Rolle von Universitäten in Zeiten sich verhärtender Fronten

Wo liegen die Grenzen des Sagbaren an Universitäten und wie kann man sie als Ort des Austausches auch über die Wissenschaft hinaus nutzen? Darüber sprechen die Politikwissenschaftlerin Dr. Anja Hennig und der Historiker und Mediator Dr. Christian Hochmuth in diesem Interview. Ausgangspunkt sind zwei Texte der Forschenden. Anja Hennig hat über eine Diskussionsveranstaltung über Montagsdemonstrationen im Dezember 2022 an der Viadrina den Artikel „The Ambivalence of the Liberal-Illiberal Dynamic“ veröffentlicht. Darüber, wie politische Kontroversen an Universitäten gelingen können, veröffentlichte Christian Hochmuth gemeinsam mit Mario Clemens den Text „Political Speech on Campus: Shifting the Emphasis from ‚if‘ to ‚how‘“.

Anja Hennig, Ausgangspunkt Ihres aktuellen Textes ist eine Veranstaltung über die Montagsdemonstrationen, zu der das Viadrina Institut für Europa-Studien (IFES) im Herbst 2022 eingeladen hatte. Was hat Sie an dieser Diskussion so sehr beschäftigt?

Es war wirklich ein Event, das für mich die meisten Emotionen und Auseinandersetzungen mit sich gebracht hat – auch schon im Vorfeld. Meine Kolleg*innen und ich hatten uns seit dem Erstarken der Montagsdemonstrationen in Folge des russischen Angriffes auf die Ukraine und die eintretende Energieknappheit mit dem Phänomen auseinandergesetzt, auch damit, wie wir als Universitätsangestellte uns demgegenüber verhalten. Schließlich zogen die Demonstrationen auch lautstark direkt an unseren Büros vorbei. Es entspricht meinem sozialwissenschaftlichen Denken, sich mit gegenwärtigen Phänomenen auseinanderzusetzen; insbesondere auch hier in der Region. Aus diesem Grund haben wir vom IFES zu einem öffentlichen Podiumsgespräch über die Montagsdemonstrationen eingeladen. Außergewöhnlich war, dass die Demonstrierenden auf dem Marktplatz mobilisierten, zu unserer Veranstaltung zu kommen. Auf einmal ging es auch um Sicherheitsvorkehrungen und die Durchsetzung des Hausrechtes. Besonders waren also der Gegenstand, die unerwartete Dynamik und meine persönliche Rolle als Organisatorin und Co-Moderatorin.

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Warum haben Sie dann anschließend über die Veranstaltung geschrieben?

Ich bin Mitglied eines internationalen Forschungsnetzwerkes für Illiberalism Studies und wurde zu einem Workshop über ethische Fragen bei der empirischen Forschung illiberaler Akteure eingeladen. Ich präsentierte dort unsere Erfahrung mit dieser Veranstaltung und diskutierte die Frage, bis zu welchem Punkt illiberalen Stimmen an Universitäten ein Podium gegeben werden sollte. Wenn wir uns auf liberal-demokratische Werte berufen, führt das in der Konfrontation mit denen, die (im Rahmen der Verfassung) deutlich anderer Meinung sind, immer zu einer Ambivalenz: In dem Moment, in dem wir sagen, wir akzeptieren diese Meinung nicht, bedienen wir uns auch illiberaler Mittel. Ich persönlich habe den Anspruch, liberale Rechte zu gewähren und muss gleichzeitig erkennen: Es gibt Grenzen. Die Definition dieser Grenzen ist ambivalent, weil es bis zu einem gewissen Punkt keine objektive Lösung gibt. Hinzu kommt die selbstkritische Frage: Benennt man solche Phänomene gleich als illiberal oder schaut man erst mal, was denn tatsächlich geäußert wird?
Dass diese Fallstudie für die Sonderausgabe des Journal for Illiberalism Studies akzeptiert wurde, hat mich natürlich gefreut. Das macht auch Frankfurt (Oder) und die Viadrina in ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit für internationale Leser*innen bekannter.

Was war für Sie die größte Erkenntnis aus der Veranstaltung und dem nachträglichen Text darüber?

Interessant war das Redebedürfnis der Demo-Teilnehmenden während, aber auch nach der Veranstaltung. Auf dem Workshop verwiesen mich Kolleginnen später auf den Ansatz des engaged scholarship, also dem Ziel von Wissenschaft, nicht nur in die akademische Welt zu wirken, sondern auch nach außen. Wir kennen das aus dem Transfer-Ansatz. Dennoch gibt es auch Stimmen, die meinen, Universitäten sollten sich auf Lehre und Forschung konzentrieren und nicht politische Bildung betreiben. Das wird international oft anders diskutiert. Sich zu überlegen, was man noch machen kann, um Leute jenseits des Mainstreams zu erreichen, verbindet Christian Hochmuth und mich.

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Das ist ja auch eine Frage des institutionellen Verständnisses. Wie sehen Sie beide hier die Rolle der Viadrina?

Anja Hennig: Wir an der Viadrina bieten ja bereits aufgrund unserer Nähe zur Stadt Möglichkeiten, sich auszutauschen, auch über sehr kontroverse Themen. Damit verknüpft ist die Hoffnung, durch diesen Raum und andere Informationen, jenseits von Telegram etwas erreichen zu können. Trotzdem ist es schwierig, Desinformationen etwas entgegenzusetzen. So gelten Universitäten – anders als beispielsweise Schulen – als Teil des Feindbildes illiberaler Kreise. Auch wir verkörpern jene Elite, die angeblich der Welt erzählt, was richtig ist. Da ist es eigentlich gut, wenn die Menschen zu uns kommen. Allerdings müssen wir uns dann auch über mögliche rote Linien austauschen, insbesondere vermutlich nach den anstehenden Landtagswahlen in Brandenburg.

Christian Hochmuth: Wir müssen sehr genau darauf gucken, mit welchen Formaten die Viadrina in die Öffentlichkeit geht. Zur Ukraine können wir beispielsweise eine Expertenrolle einnehmen; da gibt es Vorträge und im Anschluss Raum für Diskussionen. Dabei ergibt sich die Frage: Wie sind wir auf Interventionen vorbereitet, wenn zum Beispiel Fakten angezweifelt werden. Wenn wir wirklich einen öffentlichen, dialogorientierten Austausch wollen, der andere Positionen einschließt, dann müssen wir das auch ernst nehmen und keine verkappte Informationsveranstaltung organisieren, in der es keinen Raum für Diskussionen gibt. Das ist natürlich viel risikobehafteter. Da komme ich dann eben nicht mehr durch mit einer rein klassischen, wissenschaftlichen Moderation. Ich muss im Zweifel als Veranstalter auch damit zurechtkommen, dass es eskaliert und ich muss Situationen deeskalieren können. Es geht um die Frage, wie weit ich mich diesem Risiko tatsächlich öffne und worin ich meine Aufgabe sehe. Ich glaube, dass sich Universitäten – und die Viadrina insbesondere – dieser Aufgabe stellen sollten und dann natürlich auch den damit verbundenen Fragen von Formaten und von Grenzen und roten Linien.

Genau diese Fragen behandelt der Text, den Sie mit Mario Clemens geschrieben haben. Gab es auch für Ihren Text einen konkreten Auslöser?

Christian Hochmuth: Es gab eine Reihe von konkreten Anlässen, Veranstaltungen, die teilweise gesprengt oder verboten wurden. Ein Fall, den wir beleuchten, ist der des Makroökonomen und AfD-Gründers Bernd Lucke, der nach seiner Rückkehr an die Universität Hamburg daran gehindert wurde, seine Lehrveranstaltungen durchzuführen. Ein anderes Beispiel ist Gregor Gysi, dem eine politische Veranstaltung an der FU in Berlin untersagt wurde. Er ist dann vom Hörsaal in die Mensa umgezogen und hat die Veranstaltung durchgezogen. Es gibt also eine Reihe von konkreten Fällen und letztlich die allgemeine Debatte darüber, was fällt unter Wissenschaftsfreiheit, was fällt unter Meinungsfreiheit, inwieweit sollten überhaupt politische Diskussionen an Universitäten geführt werden?

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In Ihrem Text konzentrieren Sie sich zunächst auf die Klärung der Begriffe Meinungsfreiheit und Wissenschaftsfreiheit. Was sind dabei die üblichen Missverständnisse? 

Ein häufiges Missverständnis ist die Auffassung: Alles, was Lehrende sagen, ist per se von der Wissenschaftsfreiheit gedeckt. Das ist natürlich Quatsch. Wenn sich ein Lehrender zu einer Sache äußert, die nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt ist, weil sie beispielsweise dem Grundgesetz widerspricht, dann darf er das natürlich nicht als Wissenschaftsfreiheit labeln. Wissenschaftsfreiheit ist kein Blankoscheck, mit dem ich alles sagen darf, was ich möchte. Ein anderes Missverständnis ist die Ansicht, dass eine weite Auslegung der Meinungsfreiheit eine nicht zu bändigende Gefahr für vulnerable Gruppen bedeutet. Letztendlich geht es da Universitäten wie allen anderen öffentlichen Räumen, in denen Debatten stattfinden. Wenn Meinungen kundgetan werden, die andere gefährden, kann das natürlich untersagt werden.

Sie betonen in Ihrem Text, dass man sich vor allem Gedanken darüber machen sollte, wie man solche Veranstaltungen stattfinden lässt. Was sind die wichtigsten Kriterien um zu gewährleisten, dass eine Diskussion konstruktiv abläuft und einen Mehrwert hat?

Entscheidend ist, dass man ein Format wählt, das sowohl den Zielgruppen gerecht wird als auch dem Ort der Universität. Problematisch finde ich jede Art von parteipolitischen Veranstaltungen und Diskussionen. Die Diskussion von übergeordneten politischen Fragen sollte aber möglich sein. Hier geht es dann darum, dass die Veranstaltung ausgewogen besetzt ist. Das kann funktionieren, indem man Leute einlädt, die dezidiert unterschiedlicher Meinung sind. Oder ich schaffe weniger frontale Diskussionsräume mit verschiedenen Themenkreisen, damit die Zuhörenden miteinander ins Gespräch kommen. Bei der Frage, wen man einlädt, sollte man sich auch bewusst sein, dass eine Form von Imagetransfer stattfindet, wenn beispielsweise eine Person mit sehr kruden Thesen in unserem Viadrina-Senatssaal einen Vortrag halten darf.

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Es geht bei alldem auch um die Frage, inwieweit sich Universitäten als Orte politischer Debatte verstehen. Wie schauen Sie auf die mitunter gewalttätige Situation an Berliner Universitäten vor dem Hintergrund des Krieges in Gaza?

Christian Hochmuth: An der Viadrina hatten wir eine Veranstaltung von Studierenden zu dem Thema Israel und Palästina, an der u. a. Janine Nuyken und ich beteiligt waren. Dieser Abend ist ein schönes Beispiel dafür, dass es funktionieren kann, in ein Gespräch zu kommen, auch an einer Universität. Ich sage jetzt nicht, mit Blick auf die Probleme an Berliner Universitäten: FU, HU, TU, wieso bekommt Ihr das nicht hin, macht es doch genauso wie wir! Das ist natürlich eine total andere Ausgangslage. Ich betrachte das eher wie eine aufschlussreiche Fallstudie, von der wir als Konfliktforscher und von der auch Universitätsleitungen lernen können. Ich finde auch gut, dass so viele Leute an den Unis jetzt mit offenen Briefen selber Position beziehen. Wenn man sich aber die Besetzungen der Universitäten anschaut, den Vandalismus und die Einschüchterung von jüdischen Studierenden, dann möchte ich betonen: Hier ist es auch der Job von Hochschul-Leitungen sicherzustellen, dass alle Studierenden ihrem Studium nachkommen und Vorlesungen besuchen können, ohne Angst zu haben. Von so einer Situation sind wir zum Glück an der Viadrina deutlich entfernt.

Anja Hennig: Ich finde das wahnsinnig komplex. Wahrscheinlich muss man die Auseinandersetzungen ertragen und einfach nur rudimentäre Regeln einhalten und Gewalt verhindern. Ich finde in dem Zusammenhang interessant, dass ein Seminar von zwei Kollegen zu den historischen Ursprüngen des Israel-Palästina-Konfliktes auf erstaunliche Nachfrage stieß. Offensichtlich ist es eine gute Idee, das Wissen auch zu dieser schwierigen Thematik zu vergrößern und in einem gesetzten Rahmen den Austausch über unterschiedliche Perspektiven zuzulassen.

Interview: Frauke Adesiyan und Lea Schüler
Foto.: Sebastian Pape

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