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Dr. Marija Grujić, wie sind Sie zur Wissenschaft gekommen?
Ich komme aus Serbien, und niemand von meinen Eltern oder Großeltern hat studiert. Meine beiden Großmütter konnten weder lesen noch schreiben. Es war also ein großer sozialer Aufstieg, als ich mich entschied, Philosophie zu studieren und später nach Deutschland kam, um meine Promotion in Soziologie zu machen. Vor meiner Doktorarbeit habe ich viel für Thinktanks und NGOs gearbeitet, meistens im Kontext des Westbalkans und in der Friedensforschung. Nach meiner Promotion entschied ich mich, wieder praxisorientierte Forschung zu betreiben und arbeitete zwei Jahre für das International Center for Migration Policy Development in Wien. Danach wollte ich unabhängiger forschen und habe mich mit meinem Habilitationsprojekt im Walter-Benjamin-Programm der DFG beworben.
Dadurch sind Sie an die Viadrina gekommen – warum ist das ein guter Ort für Ihre Arbeit?
Ich schätze das Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION, dessen Leiterin Prof. Dr. Kira Kosnick und ihre Arbeiten zu Migration und Queer Studies. Sie setzt sich stark für die Förderung von Nachwuchswissenschaftler*innen ein. Zudem freue ich mich, im selben Institut wie PD Dr. Carolin Leutloff-Grandits zu sein, deren Studien zu Geflüchteten aus der kroatischen Krajina und dem postkonfliktären Kosovo meine eigene Forschung nachhaltig inspirieren.
Sie wussten sehr früh, dass Sie in der Wissenschaft arbeiten wollen. Was reizt Sie so sehr daran?
Ich bin in einer sehr spannenden Zeit in Serbien aufgewachsen; eine Zeit, in der sich der Name meines Landes mehrfach änderte. Das weckte früh mein Interesse an Fragen der Erinnerungspolitik, Gewalt und Nationalismus. Diese Fragen konnte ich für mich am besten durch die Wissenschaft beantworten, nicht nur durch Aktivismus.
An die Viadrina sind Sie mit dem Vorhaben gekommen, hier Ihre Habilitation mit dem Projekttitel „Gendering Asyl-Infrastrukturen – Mobilisierung der Sensibilität für Geschlecht, sexuelle Orientierung und Gewalt im Europa nach 2014“ zu schreiben. Das scheint an frühere Arbeiten anzuknüpfen?
Ja, mein Habilitationsprojekt ist eine Fortsetzung meiner bisherigen Arbeit. Für meine Dissertation habe ich mich mit Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit im Kontext verfestigter Konflikte beschäftigt. Die Arbeit wird nächstes Jahr mit dem Titel „Belonging in Unhomely Homelands – Internal Displacement and Gendered Nationalism among Kosovo Serbs“ bei Berghahn (New York, Oxford) veröffentlicht. Im Laufe meiner Doktorarbeit habe ich mich mit Fragen beschäftigt, die sich um die unterschiedlichen Migrationserfahrungen von Männern und Frauen drehen. Dabei galt mein besonderes Interesse den geschlechtsspezifischen Erfahrungen von Männern und Frauen. In meiner jetzigen Forschung vergleiche ich, wie Asylinfrastrukturen in Großbritannien und Deutschland geschlechtsspezifisch strukturiert sind, besonders mit Blick auf die sogenannte Migrationskrise von 2014 bis heute. Ich untersuche, wie diese Länder mit der Frage des Schutzes von Menschen umgehen, die geschlechtsspezifische Gewalt überlebt haben oder anderweitig als schutzbedürftig gelten.
Was bedeutet in diesem Zusammenhang „Vergeschlechtlichung“?
Vergeschlechtlichung bedeutet, dass Geschlecht nicht nur vorhanden ist, sondern aktiv produziert und reproduziert wird. Ein Aspekt ist, dass im Bereich der Migration Weiblichkeit oft als Vulnerabilität und Männlichkeit als Gewalt kodiert wird. Das ist alltäglich auch im medialen Diskurs zu beobachten, beispielsweise bei den ukrainischen Frauen, die als weniger bedrohlich wahrgenommen werden als alleinstehende Männer. Ich untersuche kritisch, wie diese Geschlechternormen in den alltäglichen Praktiken der Asylinfrastrukturen entstehen und umgesetzt werden.
Warum ist für Sie der Fokus auf Geschlecht, Sexualität und Gewalt in dem Zusammenhang mit Asyl so bedeutsam?
Dieser Fokus ist zentral, weil Asylprozesse oft auf vergeschlechtlichten Vorstellungen von Schutzbedürftigkeit basieren, die bestimmte Gruppen systematisch ausschließen oder benachteiligen. Geschlechtsspezifische Gewalt betrifft nicht nur Frauen, sondern auch Männer und nicht-binäre Personen, deren Erfahrungen in Asylstrukturen oft marginalisiert oder unsichtbar gemacht werden. Ein besonderer Fokus meiner Arbeit liegt auf der Untersuchung, wie digitale Technologien die Verwaltung und Bewertung von Schutzansprüchen beeinflussen, und dabei bestehende Ungleichheiten entweder verstärken oder neue Räume für demokratische Teilhabe schaffen. Indem ich diese vergeschlechtlichten Normen und die Rolle digitaler Technologien untersuche, können wir besser nachvollziehen, wie Asylpraktiken nicht nur Schutz gewähren, sondern gleichzeitig soziale Ungleichheiten reproduzieren. Nur durch eine differenzierte Betrachtung dieser sozialen Kategorien und der digitalen Dimensionen kann eine gerechtere und inklusivere Asylpolitik ermöglicht werden, die die vielfältigen Bedürfnisse und Herausforderungen von Überlebenden geschlechtsspezifischer Gewalt wirklich berücksichtigt.
Wie gehen Sie methodisch vor?
Ich führe qualitative Interviews mit Asylpersonal und mache ein Stakeholder-Mapping, um zu verstehen, wer in den Entscheidungsprozessen zu besonderen Bedürfnissen oder besonderer Schutzbedürftigkeit eine Rolle spielt. Geplant sind 40 Interviews, jeweils zur Hälfte mit Menschen in Berlin-Brandenburg und in London.
Aus methodologischer Sicht ist es mir besonders wichtig, dekolonial zu denken. Das bedeutet, dass ich die dominante Perspektive des Aufnahmelandes nicht einfach übernehme, sondern sie hinterfrage. Fast schon naiv frage ich, wie bestimmte Bilder und Zuschreibungen entstehen. Dabei geht es mir nicht darum, etwas zu kritisieren, sondern Wissensstrukturen zu hinterfragen.
Wie offen ist das Asylpersonal für Ihre Interview-Anfragen?
Es ist herausfordernd, da die Menschen in diesem Feld oft sehr beschäftigt sind und das Thema Geschlecht, Sexualität und Gewalt nicht einfach zu besprechen ist. Sie müssen sich in einem Umfeld, in dem sie ständig mit sehr dringenden und wichtigen Anliegen zu tun haben, Zeit für diese Interviews nehmen, bei denen sie mitunter das Gefühl haben, die eigene Arbeit kritisch zu reflektieren. Es hilft, dass ich ihnen absolute Anonymität zusichere.
Außerdem kenne ich die Sichtweise meiner Interviewpartner*innen aus eigener Erfahrung. Im vergangenen Jahr habe ich ein Volontariat in zwei Organisationen in Großbritannien gemacht und unter anderem mit Überlebenden von Menschenhandel gearbeitet. In dieser Zeit habe ich aus der Praxis heraus quasi im Hinterkopf meine Forschungsinstrumente und meine Methodologie entwickelt.
Möchten Sie mit Ihrer Arbeit eine Veränderung der aktuellen Asylpraxis erzielen?
Ich hoffe, dass meine Forschung dazu beiträgt, die geschlechterspezifische Sensibilisierung in Asylinfrastrukturen zu verbessern und mehr Bewusstsein für die komplexen sozialen Kategorien zu schaffen, die in diesen Prozessen eine Rolle spielen (zum Beispiel Geschlecht, Ethnizität, Klasse, Religion, Nationalität und andere kontextspezifische Kategorien). Aus meiner Sicht sollte dies bereits in der Ausbildung von Fachkräften im Bereich der Asylunterstützung thematisiert werden, von Immigrationsbeamt* innen und Sozialarbeiter*innen bis hin zu Dolmetscher*innen.
Gespräch: Frauke Adesiyan
Foto: Heide Fest
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