Anstoß für einen Paradigmenwechsel – Ifes lädt zur Diskussion über die Rechte der Natur

Staaten wie Ecuador, Kolumbien und Spanien haben ihrer Natur in den vergangenen Jahren Rechte verliehen. Flüsse und Lagunen wurden in Rechtsordnungen aufgenommen und anerkannt. Was hinter diesen Maßnahmen und umweltpolitischen Forderungen steht, diskutierten der Rechtswissenschaftler Dr. Andreas Gutmann von der Universität Kassel, Hans Leo Bader, Initiator des Volksbegehrens „Rechte der Natur“, sowie PD Dr. Estela Schindel, Dr. Anja Hennig und Prof. Dr. Matthias Schloßberger von der Viadrina am dem 24. Mai 2023 im Rahmen des Europa-Kolloquiums vom Viadrina Institut für Europa-Studien (IFES).

An die Tausenden toten Fische in der Oder im vergangenen Jahr konnten sich die Podiumsteilnehmerinnen und -teilnehmer noch gut erinnern. „Es waren keine schönen Bilder“, sagte Dr. Anja Hennig, Moderatorin der Runde und Politikwissenschaftlerin am Institut für Europa-Studien. Neben den toten Fischen zeigte sie zum Einstieg in die Diskussion auch ein Bild von Baggern zum Ausbau der Schifffahrt auf der Oder – die zweite Sorge von Naturschützerinnen und Naturschützern an dem Grenzfluss. „Obwohl es einen rechtlich festgelegten Baustopp gibt, ignoriert die polnische Regierung ihre eigenen Regulierungen und die Fördermittel fließen weiter“, sagte sie. Sie sprach ein Dilemma an, das mit der Idee, der Oder den Status einer Rechtsperson zu verleihen, verbunden ist. „Vor Ländergrenzen macht die Natur natürlich keinen Halt“, sagte Rechtswissenschaftler Dr. Andreas Gutmann von der Universität Kassel. „Rechte sind sicherlich nur sinnvoll, wenn sie auch umgesetzt werden können.“

Der Oder den Status einer Rechtsperson zu verleihen, erachtet er dennoch für sinnvoll. Die Idee des Rechts sei es, Menschen Gestaltungsspielräume und bei Konflikten zu vermitteln. Und so könne es auch für die Natur gelten, wenn sie als Rechtssubjekt anerkannt werde. „Die Idee ist, dass die Natur Trägerin ihrer eigenen Rechte sein kann“, so Gutmann, der am DFG-Projekt „Natur als Rechtsperson“ mitforscht. Wie diese Rechte konkret aussehen können, müsse definiert werden. Vorstellbar sei bei einem Fluss das Recht, dass das Gewässer fließen kann. Oder das Recht, dass der Fluss in seiner Ökologie nicht zerstört werden darf. „Wenn die Natur den Titel als Rechtsperson erhält, kann sie vor Gericht auch vertreten werden“, führte Gutmann weiter aus. Ein Problem, welches dabei augenscheinlich ist, seien die unterschiedlichen Interessen an der Natur. Die Initiative „Osoba Odra“, die aktuell mit einem Marsch an der Oder auf die verheerende ökologische Situation aufmerksam machen will, hat sich darüber bereits Gedanken gemacht. Vertreten werden könne der Fluss etwa über eine Kommission, die aus mehreren Interessengruppen bestehe: regionalen Vertreterinnen und Vertretern, Ämtern und gesellschaftlichen Organisationen.

Bild 1-3: Teilnehmende der Podiumsdiskussion: PD Dr. Estela Schindel, Prof. Dr. Matthias Schloßberger, Hans Leo Bader, Dr. Andreas Gutmann und Dr. Anja Hennig; Bild 4-7: Impressionen vom „Marsch an der Oder” der Initiative „Osoba Odra“


Die Mobilität und Aktion der Initiative begrüßte Viadrina-Sozialphilosoph Prof. Dr. Matthias Schloßberger als Paradigmenwechsel. „Wir haben das Ökosystem als Ganzes bisher nur wenig anerkannt.“ Mit der Verankerung von Natur als Rechtsperson könne nicht nur auf juristischer Ebene eine neue Realität entstehen. Auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen könne sich die Einstellung der Natur gegenüber ändern. „Bislang verstehen wir unter Naturschutz, dass die Natur nicht vergiftet werden darf, weil wir sonst leiden. Wie wäre es aber, wenn wir fragen: Wenn die Natur zerstört wird und wir nicht leiden würden, wäre das für uns dann trotzdem ein Verlust?“ Mit dem Begriff eines Rechtssubjektes zeigte er sich weniger zufrieden: „Mit einem Subjekt antizipieren wir, dass ein Bewusstsein vorhanden ist. Im Bereich Natur wäre es sinnvoller von Anerkennung der Würde zu sprechen.“

Dass ein Paradigmenwechsel gegenüber der Natur funktionieren kann, zeigt sich in anderen Ländern, insbesondere durch das Engagement indigener Völker in Südamerika. So halfen Initiativen in Ecuador, die Natur neu zu definieren und in die Verfassung zu heben. Kontakte nach Ecuador pflegt auch Hans Leo Bader aus Bayern, der mit dem Volksbegehren „Rechte der Natur“ seit fünf Jahren beständig dafür wirbt, eine Grundgesetzreform zu schaffen, die anerkennt, dass Menschen „Teil der Natur sind und die Lebensfähigkeit der Natur eine notwendige Voraussetzung für ein menschenwürdiges Leben ist“. Bader betonte: „Gesellschaftlich ist es wichtig, zu begreifen, welche Auswirkungen ein solcher Reformvorschlag hat.“ Die Menge der Unterschriften, die er bereits gesammelt habe, und die Aktionen anderer Initiativen zeigen, dass diese Ideen zunehmend Unterstützung finden. Den Weg über das Rechtssystem empfindet er als aussichtsreich; sofortige Ergebnisse zu erwarten, wäre jedoch utopisch.

Ob die Verankerung im Rechtssystem der richtige Weg ist, einen Paradigmenwechsel gegenüber der Natur einzuläuten, bezweifelte Prof. Dr. Sascha Münnich, Viadrina-Wirtschaftssoziologe und Leiter des Instituts für Europa-Studien. „Was bringen Reformen und Gesetze, wenn der politische Wille zur Durchsetzung dieser Rechten nicht vorhanden ist?“, fragte er. Die Natur als Rechtsperson in die Verfassung aufzunehmen, beeinflusse nicht das politische System. Im Rechtssystem werde zudem viel über Eigentum definiert. „Wenn wir der Oder also rechtlich Eigentum zuschreiben beziehungsweise sagen, dass sie Eigentum haben kann, höre ich bereits den nächsten Anwalt, der dieses Eigentum verkaufen möchte.“

Ein Blick allein auf das Rechtssystem reiche bei dem Thema nicht aus, resümierte Anja Hennig. Den Anstoß für einen Paradigmenwechsel könne er jedoch geben.

Text: Katrin Hartmann
Fotos: Judith Rabethge und Agnieszka Lindner

Im Sommersemester 2023 leitet die Kultursoziologin PD Dr. Estela Schindel das Seminar „Die Oder als juristische Person? Zur (Rechts-)Subjektivität von Flüssen und Natur“. Am 30. Mai 2023 führt sie in diesem Rahmen ein öffentliches Interview mit dem Gründer der Initiative „Osoba Odra“, Robert Rient aus Wrocław, von 16.00 bis 18.00 Uhr im Logenhaus, Raum 101/102.

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