75 Jahre und eine verpasste Chance: Viadrina-Historikerin veröffentlicht Band zur Frage, warum das Grundgesetz nicht durch eine gesamtdeutsche Verfassung ersetzt wurde

Medieninformation Nr. 52 vom 12. April 2024

Ein neuer Band geht aus rechts- und geschichtswissenschaftlicher Perspektive der Frage nach, warum die deutsche Wiedervereinigung nicht zum Anlass genommen wurde, eine neue gesamtdeutsche Verfassung zu verabschieden. Zum 75-jährigen Bestehen des Grundgesetzes gibt Prof. Dr. Kerstin Brückweh, Historikerin an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), das Buch „Die Wiederbelebung eines »Nicht-Ereignisses«? Das Grundgesetz und die Verfassungsdebatten von 1989 bis 1994“ heraus. Sie zeigt darin, dass die schon damals erkannte „verpasste Chance“ tiefergehende Gründe hatte als den oft angeführten Ost-West-Gegensatz.

Am 23. Mai 2024 wird das Grundgesetz 75 Jahre alt. Eine eigentlich als Provisorium gedachte Verfassungsordnung ist damit zum langlebigen Betriebssystem der deutschen Demokratie geworden. Dies ist umso bemerkenswerter, als die deutsche Vereinigung 1990 eigentlich die Gelegenheit – und laut Artikel 146 GG auch die Notwendigkeit – brachte, eine neue gesamtdeutsche Verfassung auszuarbeiten. Stattdessen trat das Grundgesetz in den ostdeutschen Bundesländern unverändert in Kraft. Warum? Zeigt sich darin das Desinteresse Westdeutschlands – wie neuerdings wieder vermutet wird? Oder ließen die Bedingungen der Zeit schlicht keine andere Lösung zu?

Diesen Fragen nimmt sich der neue Band an, der in den kommenden Wochen bei Mohr Siebeck erscheint. Er versammelt zwölf Beiträge von namhaften Expertinnen und Experten aus Rechts-, Geschichts- und Politikwissenschaft. Sie gehen aus ost- und westdeutscher sowie generationen- und disziplinenübergreifender Perspektive der Frage nach, wieso in einem so zentralen Moment der deutschen Geschichte kein Neuanfang für eine deutsche Verfassung möglich war. Die Beiträge beleuchten vor allem die Verfassungsdebatten, die zwischen 1989 und 1994 geführt wurden.

„Es ist schade, dass die Akteure Anfang der 1990er so wenig Mut hatten, einen Neuanfang durch eine gemeinsame Verfassung zu wagen“, findet Herausgeberin Prof. Dr. Kerstin Brückweh, Professorin für Historische Stadt- und Raumforschung an der Europa-Universität Viadrina und Leiterin des Forschungsschwerpunktes „Zeitgeschichte und Archiv“ am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung (IRS) in Erkner bei Berlin. Sie fügt hinzu: „Vielleicht ist es aber auch ehrlich und realistisch, denn es war kein Anfang unter Gleichen.“ Die Autorinnen und Autoren des Bandes zeigen: Während die einen in diesem historischen Moment die Chance sahen, schon lange diskutierte Themen wie den Umweltschutz, angepasste Familienmodelle oder Kinderrechte in die Verfassung einzubringen, sahen andere keinen Anlass, das schon lange funktionierende Grundgesetz – zumal in Zusammenspiel mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes – zu ändern. Zwischen hohem Engagement für neue Verfassungsentwürfe, utopischen Ideen und Bürgerwünschen wurde die Frage letztlich im routinierten Betrieb von Politik und Verwaltung unter den Tisch fallen gelassen.

Interessierte Journalistinnen und Journalisten können über die Pressestelle am Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung (IRS) ein Vorabexemplar für Rezensionen erhalten: https://leibniz-irs.de/medien/presseinformation

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