„Die Ukrainische Sprache hat mir den Blick geöffnet“ – Interview mit Übersetzerin Claudia Dathe anlässlich der Verleihung des Bundesverdienstordens
Die Übersetzerin und Viadrina-Mitarbeiterin Claudia Dathe ist am Freitag, dem 30. September 2022, im Berliner Schloss Bellevue mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet worden. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ehrte sie damit für ihre Arbeit als Übersetzerin ukrainischer Gegenwartsliteratur, ihren herausragenden Beitrag für ein größeres Verständnis der ukrainischen Gesellschaft und ihr ehrenamtliches Engagement für ukrainische Kulturschaffende. Im Interview erzählt Claudia Dathe, warum die Ukraine einen so großen Stellenwert in ihrer Arbeit hat.
Frau Dathe, was bedeutet Ihnen diese Ehrung mit dem Bundesverdienstorden?
Ich bin froh und dankbar; es ist eine große Ehre. Ich nutze die Auszeichnung auch dafür, zurückzuschauen auf das, was wir geschafft haben – es ist ja nicht nur eine Auszeichnung für mich, sondern auch für meine Kolleginnen und Kollegen, insbesondere die ukrainischen!
Warum ist die Ukraine und vor allem die ukrainische Sprache so wichtig für Sie?
Das habe ich mich angesichts der Auszeichnung auch gefragt: Warum habe ich mich diesem Thema zugewendet? Wahrscheinlich ist es so eine universelle Neugier. Ich will es einfach wissen. Ich wollte mich dem vermeintlich Unscheinbaren nähern und genau hinschauen. Das ist es auch, was ich gern auf andere übertragen möchte: Seid neugierig, guckt hin, gebt euch nicht zufrieden.
Claudia Dathe bei der Verleihung der Verdienstorden im Schloss Bellevue. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ehrte insgesamt 21 Männer und Frauen anlässlich des bevorstehenden Tages der deutschen Einheit. Foto: Bundesregierung/Jesco Denzel
Wann begann Ihre Auseinandersetzung mit der Ukraine?
Ich war von 2000 bis 2005 DAAD-Lektorin an der Technischen Universität Kyjiw und habe dort technisches Übersetzen unterrichtet. Bei Übersetzungsworkshops mit dem Goethe-Institut hatte ich meinen ersten intensiveren Kontakt zur ukrainischen Sprache, denn zu der Zeit war Kyjiw noch eine überwiegend russischsprachige Stadt.
Wie wurden Sie von der technischen zur Literatur-Übersetzerin?
Die Hinwendung zur Literatur war eine breite Hinwendung zur Gesellschaft. In Kyjiw knüpften mein Mann und ich Kontakte in post-sowjetische Dissidenten-Kreise, in denen sehr viel Wert auf Kultur und Literatur gelegt wurde. Wir haben einen renommierten Übersetzer ins Russische, Mark Belorusets, kennengelernt. Der meinte irgendwann: „Es ist an der Zeit, dass du dich jetzt auch mal versuchst.“ Begonnen habe ich mit Übersetzungen aus dem Russischen; mein erster Text war der Text des Czernowitzer Autors und Dissidenten Igor Pomeranzew. Als es 2004 zu der Orangen Revolution kam, gab es eine Übersetzer- und Verlegerreise durch die Ukraine. Dort konnte ich Kontakte knüpfen, unter anderem zum Suhrkamp Verlag, wo ich meine ersten Übersetzungen von Serhij Zhadan platziert habe.
Man konnte davor nur wenig Deutsches von ukrainischen Autoren lesen. Warum war das so?
Zu erklären ist das mit einer dauerhaften kolonialen bis postkolonialen Situation: Ukrainische Literatur war marginalisiert, drang nicht durch; hier im Westen gab es keine Lobby und kaum jemanden, der sich wissenschaftlich damit beschäftigte. Wenn wir heute über Dekolonialisierung sprechen, ist das ein sehr schmerzhaftes Thema, auch für mich. Es kann ja nicht so sein, dass wir von jetzt auf gleich keine russischen Autoren mehr lesen. Aber was wir im Nachhinein kritisch hinterfragen müssen, ist, warum wir den gesellschaftlichen Umbruch der Perestroika-Jahre im Westen nur mit den russischsprachigen Autoren zur Kenntnis genommen haben.
Welche Bedeutung hat es für Sie selbst, Ukrainisch gelernt zu haben?
Als ich Texte auf Ukrainisch lesen konnten, hat sich automatisch ein neuer Blick geöffnet und der Zugang zu neuen Diskursen. Das konnte nur die Sprache. Für mich hat das Leben in der Ukraine auch persönlich viel verändert. Ich bin ja nicht als Postkolonialismus-Forscherin hingekommen, sondern als jemand mit diesem Stereotyp des Russischen als Lingua franca. Dann habe ich langsam verstanden, was die jahrzehntelange Unterdrückung und Assimilation bedeutete. Damit hätte ich mich nie beschäftigt, wenn ich nicht dagewesen wäre und die Sprache gelernt hätte.
Ist die Literatur ein geeigneter Weg, sich dem Land zu nähern?
Ich halte es für problematisch, wenn Autoren zum Sprachrohr für alle Wissenschaften werden. Wenn sie Militärexperten sein sollen, Politikwissenschaftler und Soziologen – das ist eine gefährliche Rolle, an der sie scheitern müssen.
Aber kann man sich durch Literatur mit anderen Vorstellungswelten vertraut machen und sich so einem Land auch menschlich annähern? Es ist etwas Anderes, ob ich aus einer Studie erfahre, dass im Holodomor Anfang der 1930er-Jahre drei Millionen Ukrainer verhungert sind, oder ob ich bei Tanja Maljartschuk in einem Essay lese, dass die Menschen Heuschrecken gegessen haben und wie sich die Stille anhörte, als alles Lebendige verzehrt war.
Mit dem Projekt „Artists in Shelter“ helfen Sie ukrainischen Künstlerinnen und Künstlern auch finanziell, 60.000 Euro konnten Sie schon weiterreichen. Sind Kunstschaffende besonders betroffen vom aktuellen Krieg?
In jeder Krise ist die Kultur das erste, was gestrichen wird und keine Finanzierung mehr erhält. Es ist ein bitterer Teil dieses Krieges, dass vieles, was mit staatlichen Zuschüssen aufgebaut wurde, mit Kriegsausbruch dahin war. Es gibt weniger Auftrittsmöglichkeiten, Kultureinrichtungen haben geschlossen, viele Verlage haben ihre Arbeit eingestellt.
Was wünschen Sie sich für die künftige Beschäftigung mit der Ukraine?
Die Krux dieser ganzen postkolonialen Verfasstheit ist, dass es an allen Enden an Wissen fehlt. Dadurch wird an den Knotenpunkten, zu denen ich gehöre, alles abgeladen. Mir fällt es sehr schwer zu bewerten, wie sich die aktuelle Situation beispielsweise auf die Studienentscheidung von jungen Leuten auswirken wird. Lassen sie sich abschrecken oder wollen sie genauer hinschauen? Denn das ist das A und O. Wir brauchen prinzipiell mehr Leute, die sich für Ostmitteleuropa, die Ukraine, aber auch insgesamt für die Verfasstheit und Verflechtung staatlicher und gesellschaftlicher Strukturen interessieren.
(FA)
Claudia Dathe studierte Übersetzungswissenschaft (Russisch, Polnisch) und Betriebswirtschaftslehre in Leipzig, Pjatigorsk und Krakau. Nach längeren Auslandstätigkeiten in Kasachstan und der Ukraine arbeitete sie von 2009 bis 2020 als Koordinatorin für Projekte zum literarischen Übersetzen und zum europäischen Kulturaustausch am Slavischen Seminar der Universität Tübingen.
Seit Mai 2021 koordiniert sie das Forschungsverbundprojekt „European Times“ an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Viadrina. Sie übersetzt Literatur aus dem Russischen und Ukrainischen, unter anderem Texte von Serhij Zhadan und Andrej Kurkow. Im Jahr 2020 wurde sie zusammen mit Yevgenia Belorusets für das Buch „Glückliche Fälle“ mit dem Internationalen Literaturpreis und 2021 für die Übersetzung von Serhij Zhadans Gedichtband „Antenne“ mit dem Drahomán-Preis ausgezeichnet. Im September 2022 wurde bekanntgegeben, dass sie am 11. November mit dem Wilhelm-Merton-Preis für Europäische Übersetzungen 2022 ausgezeichnet wird. |