„Wir müssen uns der Kultur zuwenden, um zu verstehen, was uns unverständlich erscheint“ – Claudia Dathe über die Reihe „Lesen für die Ukraine“

Seit Anfang März 2022 bietet die Reihe „Lesen für die Ukraine“ jeden Mittwoch ab 18 Uhr für etwa 20 Minuten Einblicke in die Literatur ukrainischer Autorinnen und Autoren. Initiatorin der Kooperationsveranstaltung mit der Universität Tübingen, dem Literarischen Colloquium Berlin und dem Freie Bühne Jena e. V. ist die Übersetzerin und Viadrina-Projektmitarbeiterin Claudia Dathe. Im Interview spricht sie darüber, warum Literatur in Zeiten des Krieges wichtig ist und welche Bücher sie für den Einstieg empfiehlt.

Frau Dathe, Woche für Woche organisieren Sie Lesungen ukrainischer Lyrik und Prosa. Was kann Literatur in Zeiten des Krieges leisten?

Immer wenn politisch Ereignisse eskalieren, beobachten wir eine verstärkte Hinwendung zur Literatur. Offenbar billigt man Autorinnen und Autoren aus der Tradition der Romantik einen Geniestatus zu und denkt, sie können Dinge besser als andere sehen und formulieren. Das trifft auf Osteuropa ganz besonders zu, weil wir dort nicht so viele andere Expertinnen und Experten kennen. Die Gefahr liegt darin, dass Autorinnen und Autoren zu Themen befragt werden und sich dazu äußern, zu denen sie nicht auskunftsfähig sind. Deshalb waren meine Kollegin Schamma Schahadat von der Universität Tübingen und ich uns einig, dass wir die ukrainischen Autorinnen und Autoren nicht zu politischen Ereignissen und Zukunftsszenarien befragen, sondern ihre Literatur lesen.

Wir müssen uns der Kultur zuwenden, um vieles von dem zu verstehen, was uns heute unverständlich erscheint. Ich bin mir sicher, dass ein Teil der Gründe, warum wir heute dort stehen, wo wir stehen, damit zusammenhängt, dass große Teile der Gesellschaft den osteuropäischen Raum in seiner Differenziertheit, in seiner Komplexität lange ignoriert haben.

lesenfuerdieukraine-1920x945_600 ©Claudia Dathe

Wie kann Literatur zu einem größeren Verständnis für eine Region führen?

Die Ukraine stellt eine Bruchzone dar: auf der einen Seite beeinflusst vom imperialen Russland, andererseits zu verschiedenen Zeiten vom Habsburger Reich, von Polen, Rumänien ..., später Teil der Sowjetunion und nach 1989 ausgeschlossen von der europäischen Einigung. In dieser Bruchzone äußert sich eine Vielfalt von literarischen Stimmen, die unterschiedliche nationale und sprachliche Zugehörigkeiten hatten und haben. Es ist ein multiethnisches und multilinguales Territorium, das in besonderer Weise die Disparatheit und Differenzierung spiegeln kann, die es gerade jetzt erfordert.

Kann das Literatur sogar besser als politische Analysen?

Vielleicht nicht besser, aber sie tut es auf eine andere Art und Weise. Literatur kann Konstellationen fokussieren und das Individuelle in den Mittelpunkt stellen. Die politische Analyse zielt immer auf die Abstraktion und Struktur ab. Wir können Gesellschaften aber nicht nur strukturell denken. Wir müssen auch individuelle Blickweisen wahrnehmen. Das kann die Literatur tatsächlich besser.

Sie kennen viele ukrainische Autorinnen und Autoren persönlich. Wie empfinden Sie diese Situation, in der ihre Bekannten und Freunde auf einmal im Krieg leben?

Die ukrainische Literatur-Szene ist klein, viele Autorinnen und Autoren kenne ich persönlich. Das macht die Situation unglaublich schwer. Ich hatte vorhin eine Kommunikation mit Artem Tschech, ein ukrainischer Autor, für den ich kürzlich einen Artikel für die FAZ übersetzt habe. Der sitzt gerade im Schützengraben in der Territorialverteidigung von Kyjiw und schreibt, dass die Spenden, die wir ihm überweisen, sehr helfen.

Wie empfinden Sie die mediale Aufmerksamkeit, die Expertinnen und Experten wie Ihnen derzeit zuteilwird?

Es ist in gewisser Weise zu spät, denn die Menschen sterben und wir können sie mit dieser Aufmerksamkeit nicht mehr retten. Es ist sehr bitter zu sehen, dass es offenbar diesen Krieg braucht, damit man wirklich hinguckt. Andererseits müssen wir uns nach vorn orientieren. Wir sollten die Aufmerksamkeit nutzen und alles dafür tun, dass es jetzt zu einer Institutionalisierung der Expertise kommt. Dafür ist die Viadrina ein guter Ort; erste Initiativen sind hier bereits gestartet worden, ich fühle mich gerade am richtigen Platz.

Sie sind als Koordinatorin des Verbundprojektes European Times (EUTIM) an die Viadrina gekommen. Wie verändert der Krieg Ihren Arbeitsalltag?

Im Dezember hatten wir unsere erste EUTIM-Jahreskonferenz mit vielen Ukrainistinnen und Ukrainisten. Wir springen also nicht auf einen Zug auf, sondern setzen unsere Arbeit, die auch vor dem Krieg lief, intensiviert fort. Natürlich betrifft der Krieg auch unser Projekt: Recherchen in den ukrainischen Archiven sind gerade nicht möglich. Wir haben neben vielen Mitarbeitenden aus der Ukraine auch zwei Doktorandinnen aus Russland und fragen uns: Wie kommen wir jetzt zusammen? Wir haben vier Fellows im Projekt, die aus der Ukraine kommen und jetzt mit uns in EUTIM forschen.

Neben der Arbeit für das Projekt besteht mein Alltag aus der Arbeit mit Autorinnen und Autoren vor Ort in der Ukraine. Aber was heißt da Arbeit? Ich versuche zu erfahren, wie es ihnen geht, ob sie noch am Leben sind.

Claudia Dathe ©Screenshots/Collage: Frauke Adesiyan

Bei der Ausgabe am 16. März lasen unter anderem Viadrina-Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Annette Werberger und Doktorand Oleksii Isakov bei "Lesen für die Ukraine". Die Reihe hat Claudia Dathe gemeinsam mit Prof. Dr. Schamma Schahadat von der Universität Tübingen initiiert.


Welche ukrainischen Bücher empfehlen Sie denjenigen, die sich jetzt endlich mit Literatur der Ukraine beschäftigen möchten?

Es gibt ja ganz unterschiedliche Motive, warum jemand ein Buch zur Hand nimmt und wir sollten aufpassen, die Literatur nicht nur aufs Politische zu reduzieren. Wer das Postfaktische und Postmoderne liebt, der ist mit den Romanen von Juri Andruchowytsch gut aufgehoben: „Moscoviada“, „Perversion“ und „Zwölf Ringe“. Die sind alle schon ein paar Jahre alt, aber sie haben nichts von ihrer Originalität verloren. Wer es sozialkritisch mag, sollte Serhij Zhadan lesen; über die späten Sowjetjahre ist „Anarchy in the UKR“ sehr interessant, über die wilden Neunziger „Die Erfindung des Jazz im Donbass“, über den Krieg „Internat“. Wer das Ästhetische mit dem Feministischen und dem Aktuellen verbinden will, kann gut zur Hand nehmen: Yevgenia Belorusets „Glückliche Fälle“. Das sind Frauenporträts, die alle im Verhältnis zu dem Krieg stehen, der 2014 begonnen hat. Da tropft nicht das Blut raus, wenn man es aufschlägt, es sind ästhetisch verdichtete Episoden.

Es gibt auch zwei ganz tolle Kindersachbücher von Romana Romanyschyn und Andrij Lessiw: „Sehen“ und „Hören“. „Sehen“ ist dieses Jahr für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Das ist nicht nur für Kinder ästhetisch ein super großer Genuss.

Weitere Literaturtipps und Hintergründe zur ukrainischen Sprache und Literatur

Dathe_Claudia_2358 ©Heide Fest

Claudia Dathe studierte Übersetzungswissenschaft (Russisch, Polnisch) und Betriebswirtschaftslehre in Leipzig, Pjatigorsk und Krakau. Nach längeren Auslandstätigkeiten in Kasachstan und der Ukraine arbeitete sie von 2009 bis 2020 als Koordinatorin für Projekte zum literarischen Übersetzen und zum europäischen Kulturaustausch am Slavischen Seminar der Universität Tübingen.

Seit Mai 2021 koordiniert sie das Forschungsverbundprojekt „European Times“ an der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Viadrina.

Sie übersetzt Literatur aus dem Russischen und Ukrainischen. Im Jahr 2020 wurde sie zusammen mit Yevgenia Belorusets für das Buch „Glückliche Fälle“ mit dem Internationalen Literaturpreis und 2021 für die Übersetzung von Serhij Zhadans Gedichtband „Antenne“ mit dem Drahomán-Preis ausgezeichnet.

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