„Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich“ – Kritische Jurist*innen diskutieren mit Ronen Steinke über Ungleichheiten in der Strafjustiz

Es sind die kleinen Delikte wie Diebstahl, die das Rechtssystem in Deutschland beschäftigen – und die gleichzeitig die Ungleichheit der deutschen Justiz vor Augen führen. Ronen Steinke, Jurist und Autor, zitierte bei einer von der Initiative Kritische Jurist*innen Viadrina organisierten Lesung am 26. April 2022 im Logenhaus aus seinem jüngst erschienenen Buch „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich“. Gemeinsam mit den Moderatorinnen nahm er das Rechtssystem, insbesondere die Strafjustiz, kritisch unter die Lupe.

„Das Kapital bestimmt doch unser Leben – auch die Justiz“, sagte einer der Zuhörer nach der Lesung und hakte sogleich nach: „Insofern überrascht es mich, dass Sie von der Ungleichheit im Gerichtssaal überrascht sind. Warum hat Sie das so schockiert?“ Ob jemand arm oder reich sei, habe Einfluss auf seine Behandlung vor Gericht, hatte Ronen Steinke vorher formuliert. „Bei meiner Recherche schockierte es mich, wie drastisch die Unterschiede sind, wie einfach es für begüterte Menschen ist, vor Gericht davonzukommen. Ich habe haarsträubende Schriftsätze von Richtern gelesen. Menschen mit unterschiedlichem Einkommen bekommen bei demselben Vergehen oft vollkommen verschiedene Strafen.“ Und diese Problematik sei kein Einzelfall, sondern strukturell verankert.

Kritisch gegenüber der Strafjustiz: Autor Ronen Steinke zu Gast bei den Kritischen Jurist*innen im Viadrina-Logensaal. © Fotos: Marc Birke


Es sind nicht die skandalösen Gewaltfälle, die repräsentativ für den deutschen Gerichtssaal stehen

Mittellose, demente und drogenabhängige Menschen, die in Justizvollzugsanstalten in Zellen sitzen, weil sie ihre Schulden nicht begleichen und sich keinen Rechtsbeistand leisten konnten oder weil sie nicht einmal ihre Anklage verstanden haben: Es ist ein ernüchterndes Bild, das Ronen Steinke in seinem Buch zeichnet. 97 Prozent der Fälle an deutschen Gerichten beschäftigen sich nicht mit Gewalttaten, die auf viel Resonanz in den Medien und in der Popkultur stoßen und ein verzerrtes Bild der Justiz zeichnen, so Steinke.

„Ich habe mich in diese Verhandlungen gesetzt und meistens Menschen gesehen, die mittellos waren oder der Sprache nicht mächtig.“ Vorrangig gehe es in diesen Fällen um Diebstahl, sagte Steinke. Er nannte zwei Beispiele: Ein Bauarbeiter sitzt wegen Diebstahls von Spielsachen vor Gericht. Er hat keinen Rechtsbeistand, entschuldigt sich bei dem Richter, versucht ein gutes Bild von sich zu zeichnen. Da er für seine Strafe in Tagessätzen nicht aufkommen kann, muss er sie als Ersatzfreiheitsstrafe in Haft absitzen. Ein anderer Mann, der bei einer Demonstration in eine Rangelei mit der Polizei geraten ist, bekommt Rechtsbeistand durch einen erfahrenen Anwalt, den sich seine Eltern leisten können. Dieser beschäftigt sich intensiv mit der Sachlage, schreibt einen 14-seitigen Brief an Staatsanwalt und Richter. „Wenn genug Geld da ist, kann ein Anwalt viel Zeit investieren. Bei der Staatsanwaltschaft ist die Zeit begrenzt. In diesem Fall machte der Anwalt soviel Druck, dass der junge Mann nicht mal Geld zahlen musste, sondern freigesprochen wurde. Es sind die einkommensschwachen, oft vom Leben gezeichneten Menschen, die von unserem Rechtssystem im Regen stehengelassen werden – die Menschen, für die ein Rechtsbeistand, der mehrere hundert Euro kostet, meist nicht drin ist“, sagte Ronen Steinke.

Steinke: „Strafbefehl, Strafverteidigung und Ersatzfreiheitsstrafe müssen reformiert werden“

Die Automatisierung und Verschriftlichung des Strafbefehls, eine Strafverteidigung, die sich nicht jeder leisten könne, sowie die Ersatzfreiheitsstrafe, die viele absitzen müssen, weil sie mittellos sind, führen dazu, dass entgegen dem im Grundgesetz verankerten Gleichheitsgebot eben nicht alle gleich sind. Laut Steinke bedarf es Reformen, andere Länder in Europa machten es vor, Polen etwa: dort habe jede und jeder Angeklagte Anspruch auf einen Rechtsbeistand, egal welchen Einkommens oder welcher Herkunft. Weiterhin plädierte Steinke dafür, anstatt eines automatisierten und unpersönlichen Strafbefehls, alle Angeklagten vor Gericht anzuhören – es sei denn diese verzichten darauf.

Während in der Weimarer Republik und in den 1970er-Jahren mehr Aufmerksamkeit auf den Klassenkampf im Rechtswesen gerichtet wurde, zeichne sich seit den 1990er-Jahren ein wiederkehrender Zeitgeist ab: „Unser Rechtssystem scheint mehr von Zorn geleitet als durch Milde“, so Steinke.

Kritische Jurist*innen wollen Problematiken im Rechtssystem explizit aufgreifen – weitere Projekte geplant

Die Arbeit des Journalisten und Autoren Ronen Steinke verfolgen sie schon länger – sowohl in der Süddeutschen Zeitung, für die er als Journalist schreibt, als auch in seinen Büchern – allen voran sein Buch „Fritz Bauer oder Auschwitz vor Gericht“, erklären Johanna Mayrhofer und Annabel Buschhorn von der Initiative der Kritischen Jurist*innen ihre Einladung des Autoren an die Viadrina. Eingeladen hatten sie Steinke, ohne von seinem kürzlich erschienenen Buch „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich“ zu wissen. „Als zur Sprache kam, worum es in dem Buch geht, war für uns klar, dass wir uns gern darüber mit ihm unterhalten würden.“

Etwa 120 Gäste verfolgten die Lesung und Diskussion vor Ort im Logenhaus sowie online. Neben Johanna Mayrhofer und Annabel Buschhorn sind Dominic Andres, Tim-Julian Bengs, Peter Mattigk, Marc Birke und Jan Hübbe bei den Kritischen Jurist*innen an der Viadrina beteiligt – weitere wirken im Umkreis mit. Die „Kritischen Jurist*innen hatten bereits vergangenen November mit einer kleinen Ausstellung in der Universitätsbibliothek auf die problematische juristische Auseinandersetzung mit dem Erbe des Nationalsozialismus aufmerksam gemacht. Ein nächstes Projekt zum Thema Rechtsextremismus im Recht sei geplant.

(KH)

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