„Die Idee der DDR als geschlossenes System stimmt so nicht“ – Viadrina-Historiker und Studierende erarbeiten Ausstellung über Tourismus zwischen DDR, Polen und ČSSR

Massentourismus und DDR – diese Schlagworte werden nicht oft zusammen gedacht. Und doch entspricht es der Realität vieler Menschen, die ab 1972 frei zwischen der DDR, Polen und der ČSSR reisen durften. Dieses Phänomen hat Viadrina-Historiker Dr. Mark Keck-Szajbel erforscht und mit Studierenden an einer Ausstellung darüber mitgearbeitet. Am 26. Juni 2022 wurde sie im Museum Utopie und Alltag in Eisenhüttenstadt eröffnet. Am 6. Juli berichten die Ausstellungsmacherinnen und -macher über die interessantesten Erkenntnisse an der Viadrina.

Ohne Mark Keck-Szajbel hätte vermutlich kaum jemand an dieses Jubiläum gedacht: Vor 50 Jahren wurden für Bürgerinnen und Bürger der DDR, Polens und der damaligen Tschechoslowakei Reisen in die jeweils anderen Länder ohne Reisepass und Visum möglich und damit schnell zum Massenphänomen. Mehrere Millionen Menschen aus der DDR machten sich schon im ersten Jahr der neuen Bestimmungen auf den Weg über die „Grenzen der Freundschaft“ in die Nachbarländer. Ein Städtetrip nach Prag, Einkaufsbummel hinter der polnischen Grenze, Wandertouren in der Hohen Tatra, Skiurlaub im Riesengebirge – all das wurde unkompliziert möglich.

Die Vorstellung von einem massentouristischen Hin und Her hat den US-amerikanischen Historiker Mark Keck-Szajbel, der seit 2012 an der Viadrina arbeitet, schon vor vielen Jahren derart interessiert – auch weil sie seinen Vorstellungen von der DDR widersprach –, dass er über den transnationalen Tourismus im Ostblock seine Dissertation geschrieben hat. Das nahende Jubiläum hat er nun genutzt, um sein Herzensthema im Rahmen eines Seminars auch zu einer Ausstellung zu machen. In Kooperation mit dem Museum Utopie und Alltag in Eisenhüttenstadt haben Keck-Szajbel und seine Studierenden in Archiven recherchiert, Interviews geführt und Erinnerungsstücke zusammengetragen. >>>weiterlesen

Das Team um Dr. Mark Keck-Szajbel (1. Foto, rechts) bei den Vorbereitungen der Ausstellung im Museum Utopie und Alltag in Eisenhüttenstadt sowie einzelne Exponate der Ausstellung, die von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen beigesteuert wurden.                          Fotos:  Mandy Krause / Museum Utopie und Alltag


„Der erste Gedanke bei der DDR ist doch für viele, dass man nicht reisen durfte. Doch diese Idee eines geschlossenen Systems stimmt so nicht“, erklärt Keck-Szajbel sein Ursprungsinteresse. Die ab Januar 1972 geltende neue Reisefreiheit veränderte den Horizont vieler Menschen. „In meinen Gesprächen mit den Reisenden von damals habe ich oft über die intimen Kenntnisse beispielsweise des Riesengebirges oder der Hohen Tatra gestaunt“, erzählt der wissenschaftliche Mitarbeiter vom Zentrum für Interdisziplinäre Polenstudien. Viele seien immer wieder an die gleichen Orte gefahren und haben Regionen sehr genau kennengelernt. Dabei ging es oft nicht (nur) um die so gern betonte Völkerfreundschaft. Tschechische Buntstifte waren genauso begehrt wie polnische Konsumgüter; Polinnen und Polen kauften in der DDR hingegen gern Technik ein. „Die Mobilität führte auch zu Ressentiments“, weiß der Historiker zu berichten. Die Haltungen in der DDR zu polnischen Reisenden waren nicht nur freundschaftlich und auch in der Tschechoslowakei betrachtete man die DDR-Bürgerinnen und -Bürger mitunter skeptisch, nicht zuletzt als die Zahl der DDR-Touristinnen und –Touristen dort ab 1980 stark stieg, nachdem die Grenze zu Polen im Zuge der Solidarność -Bewegung wieder geschlossen wurde.

Wie unerwartet und vielfältig dieser Exkurs in die Tourismusgeschichte ist, haben auch die Studierenden von Mark Keck-Szajbel schnell gelernt, als sie die Ausstellung mit erarbeiteten. Antje Wilke arbeitet seit etwa einem Jahr an dem Projekt mit, zunächst als studentische Hilfskraft, inzwischen als Honorarkraft des Museums Utopie und Alltag. „Nachdem ich Marks Buch gelesen hatte, war es für mich toll aus erster Hand zu erfahren, wie einzelne Menschen die Zeit von 1972 bis ‘89 und die Reisemöglichkeiten tatsächlich erlebt und wahrgenommen haben“, berichtet sie von Gesprächen mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Sie staunte, mit wieviel Mühe sich einige von ihnen tschechische und polnische Schallplatten besorgten oder wie lebhaft sie sich an das „Zittern“ vor den Grenzkontrollen erinnern, mit der Angst, dass ihnen die Einkäufe wieder abgenommen werden. 

Für Student Nicolas Burmeier war das Thema gänzlich neu. „Ich komme aus dem Westen und habe durch Familie und Freunde nie etwas von der Grenze der Freundschaft mitbekommen. Auch die Schule hat mir nie etwas über die offenen Grenzen beigebracht“, schaut er zurück.

In der thüringischen Familie von Mandy Krause, die das Seminar ebenfalls besuchte, ist das Leben in der DDR hingegen oft Gesprächsthema. Ihre Großmutter wurde kurzerhand zur Zeitzeugin für das Ausstellungsprojekt und steuerte ihre Erinnerungen an eine Reise in die Tschechoslowakei 1975 bei. Neben dem selbst geführten Interview hat die Studentin andere Gespräche geschnitten, Texte übersetzt, Bildrechte eingeholt und vieles mehr. „Diese Praxisorientierung ist toll. Sonst kommt man ja nicht hinter die Kulissen eines Museums“, schaut sie zurück. Vor allem kurz vor der Ausstellungseröffnung sei noch erstaunlich viel zu tun gewesen. „Es hat mich überrascht, auf wie viele Dinge man achten und an wie vielen Strängen man ziehen muss“, sagt sie.  

Direkt nach der Ausstellungseröffnung haben die Studierenden gemeinsam mit Mark Keck-Szajbel die früheren Grenzen der Freundschaft wortwörtlich erfahren. In einer Sommerschule in der letzten Juni-Woche erkundeten sie die Orte, über die sie vorab recherchiert hatten. Einige von ihnen werden am Mittwoch, dem 6. Juli, an der Viadrina im Rahmen der Reihe „Weiße Nächte ohne Grenzen“, über ihre Erkenntnisse berichten.

Die Ausstellung „Grenzen der Freundschaft“ im Museum Utopie und Alltag ist bis zum 30. April 2023 zu sehen.

(FA)

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