„Ich will kein Opfer aus mir machen, sondern etwas Wertvolles und Gutes leisten!“ – Gespräch mit Viadrina-Doktorand Yurii Boiko
Im Gespräch erzählt der aus Kyjiw stammende Yurii Boiko, Doktorand der Philosophie an der Viadrina, was sich seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine für ihn verändert hat, warum ihm Videos von der Front Kraft geben und weshalb er froh ist, dass die ukrainische Armee sein Gesuch zu kämpfen, abgelehnt hat.
„Ich habe Wut in mir gespürt, viele Emotionen, die ich in etwas umsetzen musste. Ich habe nicht lange überlegt, es war eine spontane Entscheidung“, beschreibt Yurii Boiko seinen Entschluss, sich als Freiwilliger für die ukrainische Armee zu melden. Das war nach den Bombardierungen von Charkiw kurz nach Kriegsbeginn, bei denen viele Menschen ums Leben kamen oder verletzt wurden. Doch er wurde nicht angenommen, die ukrainische Armee lehnte sein Gesuch ab. „Der Zuständige hat mich gemustert und gefragt: `Wie alt bist du? 23 Jahre? Geh‘ wieder nach Hause. Danke für dein Angebot, aber wir können dich nicht brauchen.‘ Da ich keine militärische Erfahrung hatte und klein und nicht so männlich bin, hielt man mich für ungeeignet“, erklärt der Viadrina-Doktorand. Stattdessen ging er für ein paar Wochen in die Karpaten und half dort beim Bau von Bunkeranlagen. Inzwischen sei er froh, dass die Armee ihn nicht genommen habe. Einige seiner Freunde, die beim Militär dienen, hätten eine harte Zeit. Nicht zuletzt deshalb, weil ihre Vorstellung vom Krieg nicht mit dem übereinstimme, was sie in der Realität erlebten. „Es geht langsam und man sitzt irgendwo auf dem Feld, in schrecklichen Umständen, und es ist weder cool noch wie im Kino. Der Alltag des Krieges ist einfach schwer zu ertragen. Kriegserfahrene Menschen können damit besser umgehen als die Leute, die ich kenne, die etwas tun wollten, aber letztlich nicht viel leisten können“, so Boiko.
Yurii Boiko vor der Fotoausstellung im Verbündungshaus Fforst - Foto: Jacqueline Westermann
Erasmus-Aufenthalt an der Viadrina inspirierte zur Doktorarbeit
Nach längerem Überlegen und intensiven Gesprächen mit seiner Familie entschied sich Boiko dazu, sein nach dem Kriegsausbruch bewilligtes DAAD-Stipendium anzunehmen, auszureisen und an der Europa-Universität seine Doktorarbeit in Philosophie anzufangen. „Die Entscheidung ist mir nicht leichtgefallen, aber das ist mein Projekt, ich habe dafür viel gearbeitet und will es nicht einfach aufgeben“, sagt er über sein Promotionsvorhaben. Während seine Eltern in Kyjiw geblieben sind, zog seine Frau mit ihm nach Frankfurt (Oder). „Die Situation an der Grenze zu Polen war stressig. Mitten in der Nacht musste ich meine Geschichte dem ukrainischen Militär glaubhaft erzählen. Weibliche Grenzposten wollten mich nicht gehen lassen. Sie waren irritiert und verärgert darüber, dass ich als Mann ausreisen durfte.“ Insbesondere die ersten Tage in Frankfurt (Oder) waren schwierig für ihn. „Ich war absolut erschöpft, hatte keine Kräfte. Ich musste viel reden, mir viel Zeit für mich nehmen, bis alles ruhiger geworden war in meinem Kopf. Es hat einen Monat gedauert, bis ich zu einem Rhythmus gekommen bin und arbeiten konnte“, schildert der 23-Jährige sein Ankommen in der Doppelstadt. Dass sein Doktorvater, Prof. Dr. Matthias Schloßberger, ihm als Zeichen der Wertschätzung ein eigenes Büro gegeben habe, habe ihm sehr geholfen.
Den Entschluss, zur Entstehung des Naturbegriffs in der Philosophie zu promovieren, fasste er bereits kurz nach seinem Erasmus-Aufenthalt an der Viadrina im Frühjahr 2021. Damals lernte Boiko auch den Sozialphilosophie-Professor Dr. Matthias Schloßberger kennen. „Er hat viele Ideen und wertvolle Hinweise. Wenn man ein so langes Projekt angeht, muss man viele Motivationsquellen haben und Herr Schloßberger ist definitiv eine davon!“
Anderen Menschen helfen ohne sich selbst aufzureiben
Für die Ukraine engagiert sich Yurii Boiko weiterhin: Am Frankfurter Bahnhof betreute er ukrainische geflüchtete Menschen, im Verbündungshaus Fforst half er, eine Fotoausstellung über Geflüchtete zu organisieren und darüber hinaus initiierte er das ukrainische Sprachcafé. Anderen zu helfen, helfe auch ihm selbst. „Am Bahnhof kommen viele sehr verlorene Leute an, die gar nicht wissen, wohin sie gehen, was sie tun können. Einige haben keine Dokumente, keine Kleider, nichts. Mit ihnen zu reden und ihnen ein wenig Optimismus zu geben, ist so wertvoll.“ Seine eigenen Bedürfnisse dürfe man dabei aber nicht aus den Augen verlieren. „Ich möchte mein Leben immer noch genießen – trotz all der schrecklichen Dinge und dem Schmerz“, betont Boiko. „Wenn man trotz aller Aggression und Gewalt, die von außen kommen, noch Liebe in sich tragen kann, dann ist das das Menschlichste, was es überhaupt gibt. Ich weiß nicht, wie sich der Krieg entwickeln wird, aber ich will kein Opfer aus mir machen, sondern etwas Wertvolles und Gutes leisten.“
Paradoxerweise seien es gerade die Videos von der Front, die ihn in dieser Haltung bestärkten. „Die Soldaten wollen keine Trauer verbreiten, sondern alle, die nicht im Krieg sind, zum Weiterleben bewegen, dazu, das Leben zu genießen“, erklärt Boiko. Für manche sei diese Haltung nur schwer verständlich. In Chats und den Sozialen Medien lese er häufig Botschaften voller Hass. „Da steht dann, dass die Russen alle sterben müssen, dass wir nur dann ein richtiges Leben haben werden. Ich hoffe, dass das kein allgemeines Gefühl ist, denn mit Hass kommen wir nicht weit. Das ist ja gerade das, was die Russen verbreiten – Hass und Kurzsichtigkeit.“ Er behält die Hoffnung, dass die jungen Menschen, die flüchten mussten, in der Ukraine künftig eine politische Kultur etablieren, die Wert auf Differenzierung und einen vielfältigen Meinungsaustausch setzt. „Wie man in Russland sieht, sind Vorurteile und Abwesenheit eines echten politischen Diskurses Hauptfaktoren für diesen Krieg“, sagt Boiko. Er selbst will sich in der Nachkriegszeit gern am Wiederaufbau beteiligen, vielleicht als Lehrer. „Da gibt es viel zu tun, Rekonstruktionsprozesse, Bildungsprozesse. Es wird viele gestresste, psychologisch erschöpfte Menschen geben, die Unterstützung brauchen werden.“
„Es geht um das Überleben einer Nation!“
Vor ein paar Jahren konnte er sich nicht vorstellen, solch starke Gefühle für sein Heimatland zu entwickeln, erzählt Boiko. „Ich war nie besonders patriotisch und politisch eher links orientiert. Aber wenn es um das Überleben der ganzen Nation geht, spielen diese Kategorien keine wesentliche Rolle. In den letzten Monaten habe ich erlebt, dass wir Ukrainer sehr viel gemeinsam haben. Viele Institutionen in der Ukraine funktionieren jetzt durch die Motivation der Menschen, nicht, weil sie bezahlt werden. Ich hoffe, dass wir das Gefühl von Zusammenhalt auch nach dem Krieg beibehalten können.“
Von Deutschland wünscht sich der Doktorand eine intensivere Auseinandersetzung mit der Geschichte der Ukraine. Das gelte auch für die akademische Welt. „Ich möchte an der Viadrina mehr Informationen über die Vorgeschichte des Krieges und koloniale Politik Russlands verbreitet sehen, mehr Veranstaltungen mit Menschen aus der Ukraine.“ Um den akademischen Diskurs zu erweitern, schlägt Boiko vor, mehr Erfahrungsberichte in die Veranstaltungen einzubauen – auch von den geflüchteten Menschen. Denn: „Es geht nicht nur um Analyse, sondern auch um Erfahrung. Es ist wichtig, unsere Erfahrung zu verstehen. Wer nur im Büro sitzt und Bücher liest, dem fehlt das Verständnis der gegenwärtigen Ereignisse, die durch eine starke Entwertung des Lebendigen charakterisiert sind.“
(YM)