„Zum Paradigma der Sowjetunion zurückzukehren ist unmöglich; es zu wollen Dummheit.“
Die ukrainische Literaturwissenschaftlerin Dr. Tamila Kyrylova floh Ende Februar von Kyjiw über Polen nach Frankfurt (Oder). In ihrem Koffer nur ein paar Habseligkeiten und der Reisepass. Sie rechnete fest damit, ihre Heimat nach wenigen Wochen wiederzusehen. Seit Juni arbeitet sie an der Viadrina am Axel Springer-Lehrstuhl für deutsch-jüdische Literatur- und Kulturgeschichte, Exil und Migration. Über ihr Leben in Frankfurt (Oder) und die Notwendigkeit eines konstruktiven Dialogs mit Russland berichtet sie im Gespräch.
„Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass wir im Zentrum Europas, in unserem gemütlichen Kyjiw, eines Tages wie in Syrien oder Afghanistan wohnen würden“, beschreibt Tamila Kyrylova ihre Eindrücke nach den Bombenangriffen auf die ukrainische Hauptstadt. „Der Kriegsausbruch kam völlig unerwartet, aber ich habe sofort gewusst, dass ich mein altes Leben nicht mehr zurückbekomme“, erzählt sie. Nur solange man keine Szenen der Zerstörung und des Krieges sehe, könne man rationale Überlegungen dazu anstellen. Sie verdeutlicht: „Man kann es sich nicht vorstellen, wie es ist im Keller zu sitzen und die Geräusche von den Geschossen in den Straßen und den Bomben zu hören, wenn man es nicht erlebt hat. Es ist schrecklich und chaotisch. Du weißt nicht, ob du am Leben bleibst, oder nicht. Es ist ein Kampf ums Leben. Emotional und auch physisch.“
„Dank der Viadrina bin ich hier in einer guten Situation“. Die ukrainische Literaturwissenschaftlerin Dr. Tamila Kyrylova kann ihre wissenschaftliche Arbeit seit Juni fortsetzen. - Foto: Heide Fest.
Aus Angst vor weiteren Angriffen machte sie sich mit ihrer Schwester auf den Weg in die Westukraine, dann nach Polen – in dem Glauben, dass der Krieg nach ein paar Wochen vorüber sein würde. Bis zum Überfall Russlands auf die Ukraine hatte die Literaturwissenschaftlerin als Dozentin für ausländische Literatur an der Nationalen Linguistischen Universität Kyjiw gearbeitet. In Warschau erhielt sie dann von Dr. Ievgeniia Voloshchuk, die seit 2014 an der Viadrina arbeitet, eine Einladung, an der Europa-Universität im Projekt „Erkundungen eines europäischen Kulturraums: Deutschland, Polen und die Ukraine im zeitgenössischen literarischen Migrationsdiskurs“ mitzuarbeiten. Die beiden Frauen kennen sich aus Kyjiw: Prof. Dr. Voloshchuk hatte ihre Doktorarbeit betreut. Kyryloava sagte zu und wohnt seit dem 9. März gemeinsam mit ihrer Schwester in einer Wohnung des Studierendenwohnheims in Frankfurt (Oder).
Heimweh und Migrationserfahrung
„Die ersten Tage und die ersten Monate nach der Flucht war ich wie in einem Schockzustand. Ich hatte Heimweh, wollte gar nichts machen. Alles, was ich in den ersten Monaten nach Kriegsbeginn tat, habe ich aus Panik oder Enttäuschung gemacht, ich war ganz zerstreut und zerrissen“, erinnert sich Tamila Kyrylova. Trotz dieser enormen Belastung engagierte sie sich bereits kurz nach ihrer Ankunft ehrenamtlich in einer vom CVJM-Leiter Norman Rossius und mit Unterstützung der Volkshochschule provisorisch eingerichteten Schule: drei Monate lang unterrichtete sie ukrainische Jugendliche. Dann fand sie eine Arbeitsstelle in einer Grundschule, diesmal waren es Kinder von sechs bis elf Jahren, die bei ihr jeden Morgen Deutschunterricht erhielten. „Mir haben diese Erfahrungen mit den Schulen geholfen. Ich hatte nicht so viel Freizeit, um herumzusitzen und deprimiert zu sein. Ich musste jeden Tag irgendwo hin, etwas organisieren, mich mit Leuten treffen. Und während dieser Zeit konnte ich bereits an ein paar Veranstaltungen des Lehrstuhls teilnehmen“, erzählt die Germanistin. Dank der Hilfe, die sie an der Viadrina und in der Stadt erfahren habe, gehe es ihr jetzt gut.
Im Juni erhielt sie einen positiven Bescheid für ein Stipendium der Volkswagenstiftung. Nun befasst sie sich wissenschaftlich mit dem Migrationsdiskurs anhand der deutsch-polnischen Reisereportagen von Adam Soboczynski und Emilia Smechowski. „Ich verstehe jetzt viel besser, was Migrationserfahrung bedeutet, was Flüchtlingskrise heißt. Die Begriffe, die bislang allgemeine Topoi waren, sind für mich nun innere, nahe Erfahrungen. Texte, die dieses Konzept behandeln, kann ich viel tiefer verstehen“, sagt Kyrylova. Das sei aber nicht das Einzige, was sie bewusster erlebe. „Wenn ich jetzt auf der Straße einen Menschen treffe, der um Hilfe bittet, sage ich nie nein. Und ich schätze das Leben mehr, einfach die Tatsache, am Leben zu sein; der soziale Status hat an Bedeutung verloren.“
Die Ukraine braucht eine Perspektive der Eigenständigkeit
Auf die Frage nach der Perspektive für die Ukraine, sagt sie, man müsse mit Russland in einen konstruktiven Dialog treten. Irgendwann. Im Moment sei dies unmöglich, im Moment wolle sie nicht über Russland nachdenken. Denn dieser Krieg sei „zu wild, zu unglaublich für die Gegenwart, für zwei zivilisierte Länder“. Doch sie hoffe, dass Politikerinnen und Politiker, die den Westen und die EU vertreten, mit Russland eine Verständigung finden werden. „Krieg hat nur einen Ausweg: Frieden zu verhandeln. Das ist logisch. Alle Kriege enden mit Verhandlungen“, betont sie. Es seien die Relikte der „Ära West-Ostblock“, die man in der derzeitigen russischen Politik beobachten könne. In einer globalisierten Welt zum Paradigma der Sowjetunion zurückzukehren, sei jedoch unmöglich; es zu wollen Dummheit.
Für die Ukraine wünsche sie sich einen selbständigen Weg jenseits von Russland – aber auch jenseits der EU. „Wir müssen zunächst mit uns selbst klarkommen, uns darüber bewusst werden, was wir selbst für unser Land erreichen können. Wenn wir besser verstehen, welche Chancen wir haben, schaffen wir einen besseren Kontakt zu Europa“, erklärt Kyrylova. „Wir stellen uns Europa als etwas Ideales vor, aber Europa ist nicht einheitlich, hier gibt es so viele kleine Landschaften und Orte, die miteinander Konflikte haben. Aber diese sehen wir auf der Landkarte nicht. Diese Risse und Spannungen, auch in den kulturellen Landschaften, sollten wir erforschen.“ Auf diese Weise ließen sich auch die unsichtbaren Konflikte zwischen den Menschen, die oft aus konstruierten Feindbildern resultierten, besser verstehen. Dies zu verbalisieren und bewusst zu machen, sei eine wichtige Aufgabe der Wissenschaft.
(YM)