Poesie und Punkrock – Serhij Zhadan sorgt mit Lesung, Gespräch und Konzert für einen berührenden und bestärkenden Abend
Berührende Poesie-Lesung, analytisches Literaturgespräch und wilde Party – all das war der Abend mit dem ukrainischen Poeten und Sänger Serhij Zhadan am 5. Dezember 2022 im Frankfurter Kamea. Auf Einladung der Viadrina beendete Zhadan eine Tournee mit seiner Band „Zhadan i Sobaky“ in Frankfurt (Oder), bevor er in seine Heimat Charkiw zurückkehrte. Für die dortige Karazin-Universität – eine der ukrainischen Partner-Universitäten der Viadrina – sammelte die Band an dem Abend Spenden.
Mit einem Fuß auf der Lautsprecherbox, leicht zurückgelehnt, den Kopf im Nacken, reckt Serhij Zhadan die Faust in die Luft, in der anderen Hand hält er sich steil das Mikro vor den Mund. Das Publikum hängt an seinen Lippen, singt mit, tanzt, wirft die Arme von einer Seite zur anderen. Hinter Zhadan sorgen seine Bandmitglieder, die sich ,Die Hunde‘ (Sobaky) nennen, an Gitarre, Schlagzeug, Posaune und Trompete für Tempo und Wumms. Die allermeisten im Saal verstehen, was Zhadan auf Ukrainisch singt und sagt – viele ukrainische Viadrina-Studierende und -Beschäftigte sind gekommen; es ist ein ausgelassenes, selbstvergewisserndes Treffen der Community, dem diejenigen Gäste, die die Sprache nicht verstehen, staunend und etwas verhaltener tanzend zuschauen. >>>weiterlesen
Fotos: Heide Fest, Michaela Grün
Die Party, die bis in den späten Abend im Kamea herrscht, steht im Kontrast zum ruhigen Auftakt des Abends. In eine freudig angespannte Stille hinein begrüßte Prof. Dr. Timm Beichelt, Dekan der Kulturwissenschaftlichen Fakultät, den ukrainischen Gast auf der Bühne als „eines der wichtigsten Antlitze einer zugleich wehrhaften und menschlichen Ukraine“. Zhadan sagte nach kurzem, heftigen Begrüßungsapplaus: „Ich freue mich nicht nur, dass dies die letzte Station der Tour ist und wir danach nach Hause reisen. Ich freue mich auch, dass dieses Konzert in einer Universitätsstadt stattfindet und wir heute das Studentische in den Mittelpunkt rücken.“ Er verwies auf die Filme, die auf großen Leinwänden liefen. Sie wurden vor und nach den russischen Angriffen auf Charkiw gedreht und zeigen vor allem die Zerstörungen von Gebäuden und Wohnheimen der Karazin-Universität und die neue Realität auf einem Campus im Kriegszustand.
Spätestens seit der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an Serhij Zhadan im Oktober ist der ukrainische Musiker und Poet in Deutschland ein Star. Dass er ausgerechnet in Frankfurt (Oder) auftritt, ist seiner Übersetzerin und Viadrina-Mitarbeiterin Claudia Dathe zu verdanken, die ihn seit vielen Jahren begleitet. Mit ihr und der Viadrina-Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Annette Werberger kam Zhadan an diesem Frankfurter Abend auf der Bühne ins Gespräch. Anstatt wie so oft über den Krieg zu sprechen und über Zhadans Aktivismus ging es ums Schreiben, um Poesie und das Übersetzen. Ein literaturwissenschaftliches Gespräch liegt Zhadan alles andere als fern. Er ist Germanist und hat seine Diplomarbeit der Übersetzung Rilkes ins Ukrainische gewidmet. „Der größte Ausdruck des Hingezogenseins zur Poesie ist die Übersetzung“, sagte Zhadan. Und: „Wen ich mag, den übersetze ich auch.“ Auch Texte von Rammstein-Sänger Till Lindemann finde er interessant.
Danach gefragt, wie Claudia Dathe ihre Lyrik-Übersetzungen angehe, sagte diese: „Ich nehme die Gedichte auf und versuche die poetischen Räume in mir abzurufen. Bei Serhijs Gedichten ist es besonders wichtig, dem Klang nachzuspüren. Wenn Gedichte nicht gereimt sind, muss man etwas anderes finden, um die Dynamik wiederzugeben.“ Wie gut ihr das gelingt, ließ schon die kurze deutsch-ukrainische Lesung aus dem Gedicht-Band „Antenne“ erahnen.
Im weiteren Gespräch spürten Serhij Zhadan, Claudia Dathe und Annette Werberger, unterstützt durch Viadrina-Doktorand und Übersetzer Oleksii Isakov, der ukrainischen Literatur, dem Futurismus und Anarchismus nach. Dass dieses Feld durch mangelnde Übersetzungen und auch mangelndes Interesse für deutsche Leserinnen und Leser bisher nur schwer zu erschließen ist, habe nicht nur ästhetische Folgen, waren sich Zhadan und seine Übersetzerin einig. Während der Autor meinte, der Umgang mit ukrainischer Literatur in Deutschland sei, als ob man ein I-Phone benutze ohne die Funktionen zu kennen („Es fehlt der Kontext.“), sprach Claudia Dathe von der ukrainischen Literatur in Deutschland als „Flachwurzler“. „Uns fehlt es an Tiefe im historischen Verständnis, weil wir die Literatur nicht zur Kenntnis genommen haben. Das ist nicht nur ein rein ästhetisches Nichtwissen. Und fehlt das Verständnis der Umstände der Zeit, wie sie von den Ukrainerinnen und Ukrainern wahrgenommen wurden.“ Als ein Beispiel nannte Zhadan die Weigerung zu erkennen, dass man Begriffe wie Patriotismus in Deutschland und der Ukraine ganz unterschiedlich verwende. „Im Westen wird dieses Auseinanderfallen der Begriffe nicht wahrgenommen – bewusst oder unbewusst, es wird schlichtweg ignoriert“, sagte er. Und er räumte mit einem weiteren häufigen Missverständnis auf: „Wenn ich die ukrainischen Streitkräfte unterstütze, tue ich das nicht, weil ich Krieg will! Ich will Frieden und ich möchte, dass die Ukraine ein demokratisches Land ist. Aber ich weiß auch, wer die Demokratie in der Ukraine verteidigt.“
Zu Beginn des Abends hatten Serhij Zhadan und Claudia Dathe aus Zhadans Gedichtband „Antenne“ vorgelesen: „Lasst und mit dem Schwersten anfangen, lasst uns rückhaltlos in die Nacht eintauchen, die wie Kohle auf den Laken hervortritt.“ Für das Publikum wurde es eine leichte, ausgelassene Nacht. Wie sie sich für den Dichter und seine Band anfühlte, die am nächsten Tag die Rückreise nach Charkiw antraten, lässt sich nur erahnen.
(FA)
Lesung und Konzert wurden veranstaltet von der Europa-Universität Viadrina in Kooperation mit der Heinrich Böll Stiftung (Bund). Initiiert wurde die Veranstaltung vom Projekt „Europäische Zeiten“ der Viadrina-Professur für Osteuropäische Literaturen.