Raketenhauptstadt oder Einwanderungsstätte – welches Narrativ trägt Dnipro? Viadrina-Historiker stellt Buch über seine Heimatstadt vor
Wie segelt eine Stadt im Schatten der historischen Ereignisse? Seit vielen Jahren schon ist Prof. Dr. Andrii Portnov nicht mehr in Dnipro zu Hause. Dass ihn dennoch eine innige Verbindung zu seiner Heimatstadt prägt, beweist sein Buch „Dnipro – Entangled History of a European City“. Am 1. Februar stellte der Wissenschaftler seine historische Kontextualisierung der südost-ukrainischen Stadt im Senatssaal der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) vor und bestärkte einmal mehr den multidisziplinären Ansatz von Geschichtsschreibung.
Kyjiw, der Ursprung der Orthodoxie in Osteuropa, Lwiw berühmt für seinen Kaffee und seine Schokolade und für die österreichische Architektur und das südliche Odesa als Stätte besonderen Humors und faszinierender Multikulturalität: Und welches Narrativ trägt Dnipro? Bei diesem Gedanken musste Prof. Dr. Andrii Portnov vom Viadrina-Lehrstuhl für Entangled History of Ukraine ein bisschen lächeln: „Dnipro wird bis heute durch keine klar formulierte Mythologie beschrieben. Es ist eine Stadt ohne Narrativ.“ Eine Liste von Beschreibungen Dnipros durch seine Einwohnerinnen und Einwohner mache dies deutlich: „Dnipro ist: südlich, zufällig, fleißig, ohne Intellektuelle, Steppe, nicht-provinziell, autark, künstlich, nicht neugierig, praktisch-orientiert, nicht nachhaltig, ohne stadtbildende Faktoren, ohne kreativen Anspruch“, las Portnov vor.
Multidisziplinäre Geschichtsanalyse mit lokalen und globalen Vergleichen
Bis heute gibt es kaum wissenschaftliche Abhandlungen über Dnipro. Diese Lücke versucht Portnov zu füllen. Was als einjähriges Projekt in Kyjiw begann – bereits fernab seiner Heimatstadt –, hat er nun nach zehn Jahren Recherche unter dem Titel „Dnipro – Entangled History of a European City“ in englischer Sprache aufgeschrieben. Der Zusatz „European City“ sei ihm nicht zuletzt durch die Ereignisse am und nach dem 24. Februar 2022 besonders wichtig.
Als Wissenschaftsgeschichte seiner Heimat baute er die Kapitel auf Grundlage von multidisziplinären, mehrsprachigen, internationalen, nationalen und lokalen Quellen auf. So nahm er Berichte von Zeitzeugen und verglich und kontextualisierte diese mit Quellen aus Deutschland, Frankreich oder Belgien sowie mit europäischen sowie globalen Entwicklungen. All dies stütze seinen wissenschaftlichen Ansatz, Geschichtsanalyse müsse „entangled“ – also verwoben – verstanden werden. Sein Buch gebe nicht auf alle Fragen Antworten. Vielmehr ergaben sich bei der Recherche und beim Schreiben weitere Fragen, die eine erste Wissenschaftsgeschichte Dnipros zeigen, die fortgeführt werden kann und muss, so Portnov.
Kurz vor dem 24. Februar 2022 hatte er das Buch fertiggestellt. Vor der Veröffentlichung entschied er sich bewusst, die Ereignisse danach, herauszulassen. „Historiker müssen warten. Um die Ereignisse analytisch festzuhalten, brauchen wir mehr Zeit und Distanz“, sagte er auf dem Podium im Gespräch mit Viadrina-Mitarbeiterin und Übersetzerin Claudia Dathe. „Jede ukrainische Stadt wird nach dem Krieg eine andere sein“, bestärkte er seine Aussage.
Raketenhauptstadt und Einwanderungsstätte
Dnipro – vor 1926 Katerinoslaw, danach bis 2016 Dnipropetrowsk – ist heute nach Kyjiw, Charkiw und Odesa mit knapp einer Million Einwohnerinnen und Einwohnern die viertgrößte Stadt der Ukraine. Einen besonders hohen Anteil der Bevölkerung machen mit 25 Prozent schon immer Einwanderinnen und Einwanderer aus, erklärte Portnov. Dafür spricht auch seine eigene Familiengeschichte. Bereits die Generation seiner Großeltern – mit seiner damals noch jungen Mutter – wurden als Ingenieure aus beruflichen Gründen nach Dnipro geschickt. Erst er selbst und seine Schwester seien dort geboren. Während letztere blieb, wollte er nach seinem ersten Hochschulabschluss weg und ging Richtung Lwiw, Kyjiw, Warschau, Berlin, Frankfurt (Oder). Weil in ihm erst in Kyjiw das Interesse an seiner Heimat wuchs und er dieses Interesse weiter nach Warschau, über Berlin bis nach Frankfurt (Oder) trug, sei es ihm ein besonderes Anliegen gewesen, das Buch zuerst in der Doppelstadt vorzustellen. „Die vergangenen zehn Jahre, in denen ich daran gearbeitet habe, stehen auch für meine Lebensetappen und den Bezug zu Dnipro“, sagte er.
In seiner Abhandlung geht der Historiker ins 18. Jahrhundert zurück und beschreibt die Ausbreitung der Stadt unter Katherina der Großen, die Revolutionszeit, die Industrialisierung, bolschewistische Einflüsse sowie die Sowjetzeit. Ebenso thematisiert er den Ersten und Zweiten Weltkrieg, die Zeit des Kalten Krieges bis zur Unabhängigkeit Dnipros im Jahr 1991. Die Stadt bildete zu Sowjetzeiten eines der wichtigsten Zentren der Waffen- und Raumfahrtindustrie und ist heute noch Standort von Juschmasch, einem großen Hersteller von Raketen und Satelliten. Wegen der ansässigen Rüstungsindustrie war Dnipro bis in die 1990er Jahre eine geschlossene Stadt – Ein- und Ausreise waren nur als Ausnahme gestattet. „Es ist heute kaum vorstellbar, aber als Kind war ich schockiert, als ich ein Auto mit einem tschechoslowakischen Nummernschild herumfahren sah. Für mich war damals klar, dass ich London oder Paris nur aus Büchern kennenlernen werde.“ Dass dies anders kommen sollte, zeige auch wie wandelbar Geschichte sei.
Bleibt Dnipro nach seinen Namenswechseln, der Einwanderungscharakteristik und Rüstungsgeschichte nun ohne Narrativ? „Ich persönlich habe keinen Vorschlag dafür“, so Portnov. Als Historiker sei er regelrecht froh, dass die Stadt kein Narrativ mit sich bringe. Jede Geschichte muss „entangled“ sein – dazu passe keine eingrenzende Begriffssetzung. Vielleicht ist eine Stadt ohne Narrativ auch sehr viel spannender für die Leserinnen und Leser seines Buches.
Zur Aufzeichung der Buchvorstellung >> https://www.youtube.com/watch?v=H-haPx8pq1Y.
(KH / Fotos: Agnieszka Lindner)