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Als Yunus Kala in der Nacht zu Montag vergangene Woche in sein Frankfurter Wohnheimzimmer nach Hause kommt und beim Zähneputzen in seinen Twitter-Feed schaut, ist an Schlaf nicht mehr zu denken. Immer neue Nachrichten von dem zerstörerischen Erdbeben im Süden der Türkei und Norden Syriens erscheinen auf dem Display. Schnell weiß er, dass auch die Provinz Hatay, in der ein großer Teil seiner Familie lebt, stark betroffen ist. „Ich konnte meine Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen nicht erreichen; ich war in Panik“, erinnert er sich. Im Laufe der nächsten Stunden erfährt er, dass sich seine Familienmitglieder teilweise in letzter Minute aus den einstürzenden Gebäuden der Stadt Antakya retten konnten. Als es hell wird, erkundigt sich seine Freundin Asena Topal nach ihm; sie treffen sich zum gemeinsamen Frühstück, immer mehr türkische Kommilitoninnen und Kommilitonen kommen dazu. „Ohne meine Freunde wäre ich ausgeflippt“, schaut Yunus Kala zurück. Auch Asena Topal, die aus Istanbul kommt, hat Bekannte in der Erdbebenregion. Einen Freund erreicht sie über Tage nicht. Sie denkt, er sei in den Trümmern gestorben, bevor er sich dann doch meldet. Auch sie sagt: „Es war entscheidend, in diesen Tagen Menschen um mich zu haben, die das Gleiche durchmachen.“ Wie wichtig der gegenseitige Trost und die Unterstützung sind, lässt sich auch bei dem Interview acht Tage nach dem Beben beobachten. Während die beiden von ihren Erlebnissen der vergangenen Tage reden, berühren sie sich immer wieder an der Schulter oder dem Knie, trösten einander kurz, wenn die Tränen in die Augen steigen.
Asena Topal lernt seit vergangenem Jahr an der Viadrina, zunächst für zwei Erasmus-Semester, inzwischen studiert sie regulär Kulturwissenschaften. Yunus Kala war schon für ein Semester im Jahr 2020 an der Europa-Universität; für ein Masterprogramm in Wirtschaftswissenschaften kam er im November 2021 zurück nach Frankfurt (Oder). Die Beiden sind zwei von 132 Viadrina-Studierenden mit türkischer Staatsbürgerschaft, 32 Studierende kommen derzeit aus Syrien. Für viele von ihnen ist die Welt seit den ersten Nachrichten über die Erdbeben mit aktuell mehr als 40.000 Todesopfern nicht mehr die gleiche. „Hier geht einfach alles weiter, die Menschen lachen … – gleichzeitig sehen wir in den Medien all die leidenden Menschen, Tote, Obdachlose, zerstörte Städte. Diese Erfahrung wird mich ein Leben lang prägen, auch weil ich das hier, im Ausland, erlebe“, beschreibt Asena Topal ihre derzeitige Gemütslage. Yunus Kala pflichtet ihr bei und erzählt von Schuldgefühlen, wenn er sich abends in sein Bett legt und das intakte Zimmer um sich herum betrachtet. Zu viele Menschen in der Region, in der er jeden Urlaub verbracht hat, schlafen derzeit in Zelten oder im Freien, wärmen sich an Lagerfeuern und haben alles verloren.
Schwierig und zugleich hilfreich erscheint den beiden, dass das Leben an der Universität weitergehen muss. Asena Topal hat schon am Tag nach den Beben eine mündliche Deutsch-Prüfung, zwei weitere Klausuren folgen. Auch Yunus Kala sitzt wenige Tage nachdem für viele seiner Familienmitglieder das bisher gewohnte Leben buchstäblich zusammengebrochen ist, wieder in einer Klausur. „Irgendwie helfen die Prüfungen auch, weil sie uns erinnern, dass wir ein normales Leben haben“, sagt er. Die ständig auf ihren Smartphones erscheinenden Nachrichten belasten die Studierenden, gleichzeitig sind sie sich der großen Bedeutung dieser Art der Kommunikation gerade angesichts der Katastrophe bewusst: Über Twitter rufen verschüttete Menschen um Hilfe, indem sie ihre Adressen verbreiten. Auch Spendensammlungen erhalten durch die rasante und weltweite Verbreitung von Aufrufen über Social-Media-Kanäle eine große Aufmerksamkeit. Asena Topal und Yunus Kala verfolgen all das fast ununterbrochen, während sie mit ihren türkischen Freundinnen und Freunden zusammensitzen, Hilferufe teilen, selbst Hilfe organisieren, Nachrichten gucken und versuchen, mit Tee, Filmen und Spielen für etwas Ablenkung zu sorgen.
Zum gewohnten Alltag gehört auch, dass beide in diesen Tagen zu geplanten Reisen in die Heimat aufbrechen – wie immer in der vorlesungsfreien Zeit. Doch diesmal ist nichts wie immer, weiß Yunus Kala: „Ich werde meine Tante und meinen Onkel treffen, die traumatisiert aus dem Erdbebengebiet bei meinen Eltern in Bursa untergekommen sind; ich werden sie umarmen, ihnen in die Augen schauen.“ Yunus Kala ist überzeugt: „Es gibt keine bessere Zeit, um in die Türkei zu fliegen. Es wird die emotionalste Reise, die wir antreten, aber auch die nützlichste und sinnvollste.“
(FA, Foto: Heide Fest)
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