„Wir sind unsicher, ob wir uns wieder integrieren können“ – Ukrainische Studierende über ihre Zuflucht an der Viadrina und den bangen Blick in die Heimat
Seitdem Russland am 24. Februar 2022 seinen Angriffskrieg auf die gesamte Ukraine ausgeweitet hat, ist die Viadrina für zahlreiche ukrainische Studierende zur neuen akademischen Heimat geworden – auch für Veronika Sumiatina aus Mariupol und Georgiy Solomanchuk aus Kyjiw. In diesem Interview schauen sie auf das vergangene Jahr zurück und auf ihre Zukunft voraus.
Wie erinnert ihr euch an die Zeit um den 24. Februar 2022 und eure Ankunft an der Viadrina?
Veronika: Ich stamme aus Mariupol und habe in Charkiw orientalische Sprachen studiert. Kurz nach Kriegsbeginn haben unsere Lehrenden Angebote von Auslandsaufenthalten weitergeleitet. Ich habe mich für die Viadrina beworben und bin hier am 11. April angekommen. Da ich schon viele Auslandsaufenthalte in den USA, Spanien und Bulgarien hinter mir habe, war das Eingewöhnen leicht, auch weil es viele ukrainische Studierende gab und die Beschäftigten und Lehrenden der Viadrina sehr geholfen haben.
Georgiy: Ich habe an der Kyjiw-Mohyla-Akademie Angewandte Mathematik studiert und war ab September 2021 für ein Erasmus-Semester an der Viadrina. Am 22. Februar 2022 bin ich nach Kyjiw zurückgeflogen. Ich erinnere mich, wie der Beamte am Flughafen in Berlin mir beim Blick in meinen Pass „Viel Glück“ gewünscht hat. Ich bin dem Krieg quasi entgegengeflogen. Wenige Tage habe ich in einem Vorort von Kyjiw verbracht, das waren sehr gefährliche Nächte. Dann sind wir in den Westen der Ukraine gezogen. Mit der Unterstützung von Svitlana Nikolaienko vom International Office der Viadrina bin ich dann wieder zurückgekommen. Am 27. März bin ich aus der Ukraine ausgereist – sobald unsere Regierung das für männliche Studierende wieder erlaubt hat. Die erste Zeit zurück in Frankfurt (Oder) kam ich mir vor wie ein Außerirdischer. Nachdem ich ein Semester lang ein normales Leben hier hatte, war ich nun wie in einer anderen Wirklichkeit. Ich habe aus der Distanz meinen Bachelor-Abschluss gemacht, aber das war nicht einfach. Mathematik ist eine Wissenschaft, die hohe Konzentration erfordert. Das mag ich so an ihr, aber jetzt war es schwer, sich zu konzentrieren. In meinem Kopf habe ich immer den nächsten Luftalarm erwartet.
Ihr betrachtet den Krieg in eurer Heimat aus der Ferne hier in Deutschland. Gibt es aus eurer Sicht Dinge, die hier nicht gut verstanden werden?
Georgiy: Hier ist die Annahme weit verbreitet, bei diesem Krieg gehe es nur um Russland und die Ukraine. Aber Russlands Interessen gehen weit darüber hinaus. Es geht um ganz Osteuropa und auch um Ostdeutschland. Ich würde den Deutschen gern sagen: Wenn ihr der Ukraine helft, den Krieg zu gewinnen, verteidigt ihr euch auch selbst.
Veronika: Krieg ist nie okay. Heutzutage vergessen die Menschen das; es wird irgendwie zur Routine für die Ukraine und auch für die Welt. Aber es ist nicht normal und wir sollten uns nicht daran gewöhnen. Ein Erlebnis, das ich nicht vergessen werde, war ein Online-Examen, an dem ich in Frankfurt und mein Kommilitone in Charkiw teilgenommen haben. Irgendwann hörte man Bombeneinschläge über sein Mikrofon und er entschuldigte sich, dass er kurz sein Auto umparken müsse. Da dachte ich mir: Wann ist das unsere Realität geworden?
Was ist für euch persönlich das Schwierigste an dieser Situation?
Veronika: Für mich ist es die Angst vor dem, was in der Ukraine passiert. Ich habe auch Angst davor zurückzugehen. Zum einen weiß ich nicht, wie ich behandelt werde, denn ich war im Ausland. Zum anderen habe ich auch Angst, wie ich mit Bombardierungen umgehen kann und damit, in die Ruinen zurückzukehren.
Georgiy: Das erste ist, dass ich so weit von meiner Familie weg bin. Meine Mutter und mein sechsjähriger Bruder leben inzwischen zum Glück in Süddeutschland. Mein Vater ist seit Juni in der Armee und ich habe Angst um ihn. Zweitens ist da die Unsicherheit über die Zukunft, der Planungshorizont ist sehr eng. Das eine sind die Zahlen: Wir werden wahrscheinlich gebraucht. Aber da ist auch die psychologische Perspektive. Ich war nicht den langen und großen Entbehrungen ausgesetzt wie meine Freunde und Nachbarn. Erfahrungen prägen Gruppen und auch Nationen. Dieser schreckliche Krieg hat dazu beigetragen, dass sich Menschen näherkommen und einander helfen; die Probleme und ihre Bewältigung werden zu einer Art Klebstoff der Gesellschaft. Diese Erfahrung haben wir hier nicht, daher sind wir unsicher, ob wir uns wieder integrieren können.
Veronika: Ich weiß einfach nicht, was als nächstes passieren wird; ich habe mir abgewöhnt zu planen. Auch meine Familie hat sich nach Deutschland gerettet, nachdem sie mehrere Wochen in Mariupol eingekesselt war. Aber alles, was wir hatten, ist zerbombt. Wir haben kein Zuhause und keine Arbeit mehr.
Was gibt euch in dieser Zeit Kraft und Hoffnung?
Veronika: Meine Stärke sind meine Eltern, die überlebt haben.
Georgiy: Es ist die Arbeit, die man bewältigt, der Job, die nächste Prüfung. Irgendwie kreiert sich die Psyche immer neue Aufgaben. Stärke bekomme ich auch durch meine Freunde, die inzwischen in der halben Welt verstreut sind.
(FA, Fotos: Heide Fest)