„Digitale Feldforschung“ – Prof. Dr. Annette Werberger nutzt Twitter zur Einordnung von Russlands Krieg gegen die Ukraine
Seit 2012 ist Annette Werberger Professorin für Osteuropäische Literaturen an der Viadrina. Seit März 2022 hat sie einen Twitter-Account, über den sie regelmäßig Informationen und Meinungen zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine mit einer stetig wachsenden Zahl an Followern teilt. Im Interview berichtet sie darüber, welche Motivation hinter ihren Aktivitäten auf der Kurznachrichten-Plattform steckt.
Frau Werberger, was verbindet Sie mit der Ukraine?
Ich habe die Ukraine und ihre Kultur schon im Rahmen meines Studiums der Ostslavischen Philologie und Osteuropäischen Geschichte kennengelernt. 1993 hatte ich mein erstes Seminar zur ukrainischen Geschichte in Tübingen bei einem kanadischen Gastprofessor, Orest Subtelny, dessen „Ukraine. A History“ (1988) sehr bekannt war. Es war ein eindrückliches Semester. Auch in Projekten und in meiner Habilitation spielte die ukrainische Literatur immer eine Rolle, aber sie war kein Arbeitsschwerpunkt.
Erst mit dem Maidan, Alexander Wölls Impulsen an der Viadrina und dank der Initiativen wie „Prisma Ukraina“ meines Kollegen Andrii Portnov und der Netzwerke von Claudia Dathe im Rahmen des Projektes „European Times“ haben meine Arbeiten in den vergangenen Jahren eine andere Qualität gewonnen. Der größte Gewinn an der Viadrina sind die vielen hochqualifizierten und motivierten ukrainischen Studierenden im Bachelor, Master und Promotionsbereich. Das war nur an der Viadrina dank des DAAD-Programms für ukrainische Gaststudierende möglich.
Was hat sich in Ihrer wissenschaftlichen Arbeit geändert, als der russische Angriff am 24. Februar 2022 plötzlich der gesamten Ukraine galt?
Wir hatten unsere Aktivitäten in EUTIM schon vor dem 24. Februar verstärkt. Wir versuchten gegen die Narrative des Kremls, die man in Deutschland leider vielfach akzeptierte, wenigstens ein wenig anzuschreiben. Ein Artikel zur ukrainischen Literatur erschien wohl deswegen gleich zu Beginn des Krieges in der FAZ. Am 24. Februar standen zunächst jedoch die praktischen Dinge im Vordergrund: Wie kann man ukrainischen Kolleginnen und Kollegen helfen? Wo erhalten wir Informationen? Wir mussten übersetzen, Personen am Bahnhof abholen, Anträge für Stipendien schreiben, koordinieren, Aufmerksamkeit für Autoren fördern durch Lesungen und so weiter.
Auf Twitter haben Sie mittlerweile viele, auch namhafte Follower. Was war Ihre Motivation, sich bei diesem Netzwerk anzumelden – und nicht bei einem anderen?
Ich bin nicht auf Twitter gegangen, um viele Follower zu bekommen, sondern weil ich ohne soziale Medien keine ausreichenden Informationen aus der Ukraine bekommen konnte. Ich hatte schon zu Zeiten des Maidans überlegt, auf Twitter oder Facebook zu gehen, es aber dann verworfen. Als ich Informationen zum Angriff gegen unsere Partneruniversität in Charkiw suchte, fand ich fast nur Infos auf Twitter und habe mir dann dort einen Account eingerichtet.
Ich bemühe mich vor allem darum, viele ukrainische Accounts zu finden, die wichtige Inhalte posten und übersetze dann. Auf diese Weise habe ich sehr viel über die Ukraine gelernt in dieser schwierigsten Zeit dieses Landes.
Wie nutzen Sie Twitter genau?
Ich habe keine Systematik entwickelt, sondern einfach begonnen. Es ging mir um Aufklärung bei uns, deswegen twittere ich auch meist auf Deutsch. Mein Schwerpunkt liegt sicherlich nicht auf militärischen Themen, sondern auf dem schwierigen ukrainischen Alltag im Krieg, den besetzten Gebieten, Menschenrechtsverletzungen, Informationen zur ukrainischen Kultur und Literatur samt Tagungshinweisen und Buchtipps, ukrainische und russische Ideengeschichte – sprich alles Dinge, die mir auch in meiner Forschung wichtig sind, auch wenn ich auf Twitter nicht forsche. Ich schaue auch regelmäßig auf „putinistische“ Accounts, auch das gehört ja dazu. Ich habe dann gelernt, dass es nicht reicht zu übersetzen und auf Dinge hinzuweisen, sondern dass man vor allem Einordnungen und Meinungen im Twitter-Universum schätzt. Twitter ist sicherlich kein wissenschaftliches Portal, aber man kann sich über seine wissenschaftliche Arbeit austauschen und Hinweise aufnehmen. Es ist eher wie digitale Feldforschung.
Empfinden Sie die Debatten über die Ukraine, beispielsweise die über Waffenlieferungen, als ausgewogen? Oder fehlt Ihnen etwas, das Sie gerne mit Ihren Followern teilen wollen würden?
Natürlich gibt es Bubbles und ich habe nicht immer die Zeit und Lust, mich in Debatten zu werfen, um andere zu überzeugen. Mein Eindruck ist aber, dass Personen, die sich explizit gegen Hilfe für die Ukraine und Waffenlieferungen aussprechen, überaus viel Raum in den Medien und Talkshows bekommen. Das wird immer tagelang auf Twitter ausgebreitet. Die Diskussion der Unterstützungsgegner ist allerdings meist gar keine Debatte über die konkrete Form der Hilfe, sondern eine Diskussion über die Diskussion selbst. Deswegen sind das Debatten, die immer einen Déjà-vu-Effekt haben: Man glaubt sich in einer endlosen Diskussionsschleife zu befinden, bei der viele Argumente nur Variationen der Argumente der Vorwoche sind. Natürlich muss man keinesfalls ein Experte sein, um sich zu äußern, aber tatsächlich fand ich es zu Beginn auffällig, dass in der Gruppe derjenigen, die die Ukraine nicht unterstützen wollen, eher keine Personen mit militärischem Fachwissen oder Expertise zu Osteuropa zu finden sind. Daher ist mein Eindruck, dass die Auseinandersetzung über die Ukraine meist entlang bestimmter deutscher Konfliktlinien verläuft: Stellung der transatlantischen Beziehungen, Gender-Themen, Migrationspolitik, deutsches Verhältnis zu Polen und Russland, Demokratieverständnis und die Bedeutung der EU.
Wie wollen Sie künftig mit diesem Kurznachrichtendienst umgehen – auch in Beziehung zu Ihrer Forschungsarbeit?
Ich hoffe, dass die Ukraine möglichst bald wieder in Frieden leben kann und man in den sozialen Medien weniger über Krieg, Besatzung und Widerstand, sondern über den Neuaufbau und Hilfe für die psychischen und materiellen Zerstörungen in der Ukraine diskutiert. Immerhin sind einige Informationen zu Osteuropa jetzt in Politik und Gesellschaft angekommen. Es würde mich freuen, wenn bald ruhigere Zeiten für die Erforschung Mittel- und Osteuropas anbrechen, dann wäre auch der Transfer weniger dringlich. Die Lücken in den deutsch-polnischen Beziehungen bleiben ein sehr wichtiges Thema, das gerade wegen des Krieges kaum behandelt wird.
Momentan kann ich auf Twitter präsent sein, weil ich durch Forschungssemester für ein Buch und das EUTIM-Projekt meine Zeit recht frei einteilen kann. Forschung passiert aber noch immer vor allem bei der Lektüre am Schreibtisch, in Archiven, im wissenschaftlichen Austausch auf Tagungen und mit Studierenden in der Lehre. Erst danach kann man das Wissen auf Plattformen wie Twitter weitergeben.
Interview/Collage: Heike Stralau