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Bevor die Lesung überhaupt begann, machte Dr. Andrea Despot, Vorstandsvorsitzende der Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft (EVZ), die aktuelle Relevanz deutlich: „Wenn 19,4 Prozent der Deutschen in aktuellen Umfragen angeben, für eine rechtsextreme Partei stimmen zu wollen, ist das ein niederschmetternder Befund auch für die Beschäftigung mit der Shoah. Erinnerungskultur darf keine affirmative Symbolhaltung sein; sie ist konstitutiv für das Fortbestehen unserer Demokratie.“ Max Czollek biete mit seinen Interventionen wichtige Beiträge für eine unablässig zu führende Debatte. >>>weiterleiten
Dass aus seiner Sicht in der deutschen Erinnerungskultur einiges verkehrt laufe, wurde in dem anschließenden Gespräch von Max Czollek mit Viadrina-Rechtshistoriker Benjamin Lahusen schnell offensichtlich. Lahusen hatte den 1987 geborenen Autor eingeladen, der mit seinen Werken „Desintegriert Euch!“, „Gegenwartsbewältigung“ und dem jüngsten Essay „Versöhnungstheater“, zahlreiche Debatten angestoßen hat. Zentral in Czolleks Analyse ist die Feststellung, dass in der deutschen Erinnerungskultur die symbolische Handlung überwiege. Während Gedenkstätten, Stolpersteine und Denkmäler ausgebaut, verlegt und eingeweiht werden, bleibe die Realität – seien es Strafverfahren gegen einstige Täter oder Rückgaben von Raubkunst – weit hinter dem eigenen Anspruch zurück. „Den Verbrechen wird ein Platz zugewiesen, an dem sie die Gegenwart nicht stören“, sagte Czollek. Er erzählte zur Verdeutlichung von einem Spaziergang bei Oranienburg, wo er Männer beobachtet habe, die just in dem Kanal angelten, an dem ein Schild darauf hinweist, dass Nationalsozialisten dort acht Tonnen Menschenasche hineingekippt haben. „Das muss man erstmal hinbekommen, einen solchen Raum der Normalität neben dem der Gewalt zu schaffen“, spitzte Czollek zu und übertrug die Beobachtung auf Berlins Innenstadt. Ohne das dortige Holocaustmahnmal, an dessen Standort man das Grauen und die Gewalterinnerung quasi banne, hätte es kein neu aufgebautes Stadtschloss geben können, an dem „ambivalenzfrei“ an die Preußenkönige erinnert werde.
Laut Czollek gibt es in Deutschland ein „Erinnern, das Vergessen bedeutet“. Ein Beispiel sei die „Rhetorik der Überraschung“ von Angela Merkel nach den rassistischen Morden in Hanau im Jahr 2020. Die damalige Kanzlerin habe sich schockiert darüber gezeigt, was rechter Terror anrichten könne. „Was hat sie denn bis dahin gedacht?“, fragte Czollek erzürnt. Zudem gelange man hierzulande über den Umweg der Aufarbeitung zu einer Normalisierung; etwa im Jahr 2006, als anlässlich der Fußballweltmeisterschaft vielerorts darüber gejubelt wurde, „endlich wieder“ Schwarz-Rot-Gold tragen zu „dürfen“. Fassungslos zitierte Czollek als weiteres Beispiel SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil, der im Sommer 2022 angesichts des Krieges in der Ukraine nach „80 Jahren Zurückhaltung“ einen militärischen Führungsanspruch Deutschlands forderte. „Man nimmt das größte Menschheitsverbrechen und verkehrt es in eine Zentrifuge für neue nationale Energie“, so Czollek.
Zum Ende der Lesung sagte Benjamin Lahusen kurzentschlossen die geplante Publikumsdiskussion im Senatssaal ab: Zu eindrucksvoll hallten die Worte von Max Czollek nach, der in der letzten Passage seiner Lesung eine neue Erinnerungskultur und eine Sprache forderte, in der „Raum für Untröstlichkeit und Unversöhnlichkeit“ ist. Diese neue Sprache könne erfolgreich sein, „weil sie Schmerzen verursacht, weil sie eine Leere hinterlässt. Weil sie euch wirklich etwas kostet.“
Text: Frauke Adesiyan
Fotos: Heide Fest
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