„Man kriecht regelrecht in die Sätze hinein“ – Lothar Quinkenstein über seine Nobelpreis-würdigen Literaturübersetzungen

Am 30. September 2023 wird einmal mehr der internationale Tag des Übersetzens gefeiert. Anlass mit dem Übersetzer Dr. Lothar Quinkenstein* zu sprechen, der am Collegium Polonicum Interkulturelle Germanistik lehrt und polnische Literatur ins Deutsche überträgt – darunter auch Bücher der Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk. Was aus seiner Sicht einen guten Übersetzer ausmacht, warum er keine Angst vor Künstlicher Intelligenz hat und wie ihn die polnische Literatur zu einem engagierten Spendensammler für die Ukraine machte, erzählt er im Logbuch-Interview.

Herr Quinkenstein, Sie sind an der deutsch-französischen Grenze groß geworden – wie wurden Sie zum Übersetzer aus dem Polnischen?
In den 1970er-Jahren, in meiner Kindheit im Saarland, war die Grenze zu Frankreich eine kaum wahrnehmbare Grenze. Die andere, die brutale Grenze kannte ich nur aus dem Geschichtsbuch und von einer Klassenfahrt in die DDR. Mich nach dem Studium in Richtung Osten zu orientieren hatte mit dem Gefühl zu tun, dass ich darüber viel zu wenig weiß.

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Was waren Ihre ersten Schritte in Polen?
Ich bin 1994 kurz nach meinem Studium als Deutschlehrer nach Polen gegangen. Das war eines von drei Angeboten an einem Schwarzen Brett an der Uni Freiburg.  Alles, was danach passiert ist, hatte mit dieser Entscheidung zu tun, zum Schulanfang am 1. September 1994 nach Mielec zu fahren. Nach einem Jahr in Polen hatte ich das Gefühl, jetzt gehen hier die Türen auf, und jetzt aufzuhören, wäre schade. Also habe ich verlängert und bin nach zwei Jahren nach Poznań gegangen, wo ich dann auch promoviert habe und übernommen worden bin. Ich war 17 Jahre in Polen, literarische Übersetzungen habe ich aber erst begonnen, nachdem wir nach Berlin gezogen waren.

Das ist ein langer Weg zum Übersetzen …
Ich bin in Allem ein etwas langsamerer Arbeiter; ich investiere gern Zeit. Ich musste mich erst sicher fühlen, nicht nur in der Sprache. Literatur zu übersetzen ist ja doch eine sehr knifflige Sache. Mich fasziniert das Übersetzen, weil es eine ganz andere Art des Zugangs zur Literatur ist. Man liest als Übersetzer ganz anders; man kriecht regelrecht in die Sätze hinein. Und man findet jede Unstimmigkeit.

Können Sie dann die Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk einfach anrufen und nachfragen?
Ich übersetze Olga ja zusammen mit Lisa Palmes im Tandem. Es ist ein ungeheures Glück, einfach mal zu schreiben: „Liebe Olga, wir sitzen hier an einer Stelle und sind etwas unschlüssig, wie ist das genau gemeint?“. Da geht es um Anspielungen oder Zitate. Wir erfahren auch bei gemeinsamen Veranstaltungen oder im Gespräch danach viel über ihre Arbeitsweise. Man kennt Vorlieben, Abneigungen, erfährt, welche Filme sie mag und welche Musik sie hört. Das sind alles Sachen, die später helfen können, Spuren im Text zuzuordnen und zu entschlüsseln.

Ist das Übersetzen nicht ein sehr uneitler Beruf?
Da hat sich einiges getan; Übersetzerinnen und Übersetzer werden jetzt in Verlagskatalogen mit Kurzbiografien erwähnt; das ist ein Novum. Es gibt z. B. mit der Translationale auch ein Festival, das nur der Übersetzung gewidmet ist. Aber es stimmt, der Hauptteil meiner Arbeit findet im Stillen statt. Wenn dann nach einer Veranstaltung jemand zu mir kommt und sagt, es hat ihm oder ihr so eine Freude gemacht, das Buch zu lesen, nehme ich das mit und sage mir: Die Arbeit lohnt sich.

Was macht einen guten Übersetzer aus?
Die Fähigkeit, möglichst viel Gelesenes permanent parat zu haben, um vergleichen und anknüpfen zu können, um assoziativ zu arbeiten und Ebenen zu identifizieren. Es geht darum, vor dem gesamten literarischen und kulturhistorischen Hintergrund, den man sich angehäuft hat, einen Text zu entschlüsseln und in die Zielsprache zu bringen. Wenn wir die Jakobsbücher von Olga Tokarczuk betrachten: Lisa Palmes und ich haben dafür so viel gelesen, über Jakob Frank, über die Historie der frankistischen Bewegung, über das polnische Judentum im 18. Jahrhundert, über Strömungen der jüdischen Mystik, über die Kabbala, … – das sind so viele Einzelheiten, die stimmig übersetzt werden müssen. Weil es ein sehr polyphon komponierter Roman ist, haben wir auch eine breite Palette von deutschen Texten gelesen, um uns in eine bestimmte Sprachmusik hineinzulesen, das war mühsam, aber vor allem ungeheuer inspirierend.

Im Alltag nutzen viele für schnelle Übersetzungen Künstliche Intelligenz. Ist das auch für Literaturübersetzungen ein denkbares Szenario?
Ich glaube, dass es bei einer bestimmten Art von Literatur Zeit sparen kann. Bei einem traditionell erzählten Krimi ohne irgendwelche Verschachtelungen bezüglich Zeit und Raum, ohne verschiedene Sprachebenen, kann das funktionieren. Die Aufgabe ist dann, das Ergebnis sehr gründlich zu lektorieren. Ich denke, dass diese Programme in atemberaubender Zeit verbessert werden, aber ich habe Zweifel, ob sie wirklich einmal so funktionieren können, dass sie alle Hintergründe und Nuancen eines komplexen literarischen Textes erfassen – gerade was die Sprachebenen angeht.

Was liegt aktuell auf Ihrem Schreibtisch?
Wir arbeiten momentan an dem Roman „Lalka“, „Die Puppe“, von Bolesław Prus. Gerade gestern habe ich fürchterliche Liebesdilemmata der Hauptfigur angemessen zu übertragen versucht. Das Buch ist Pflichtlektüre im polnischen Gymnasium und ich glaube, ich hätte als Schüler darüber gestöhnt. Aber die Übersetzung macht große Freude. Es ist sozusagen auch ein zeitgenössischer Roman, weil er ziemlich ernüchternd mit so manchen polnischen Mythen ins Gericht geht. Wir arbeiten daran, dass sich nicht das Gefühl einstellt, man hat hier eine Schwarte von anno Tobak vor sich. Unser Konzept ist, den Roman in eine Sprache zu übertragen, die nicht in jedem Satz nach 19. Jahrhundert klingt.

Sie haben zuletzt mit der Organisation Ukraine Solidarity Bus mit langen Radtouren Geld für einen Rettungswagen für Saporischschja gesammelt. Hat ihr Ukraine-Engagement auch einen literarischen Ursprung?
Ich erlebe Orte immer besonders intensiv, wenn ich sie mit Lektüren verbinden kann. Beispielsweise hat mich Bruno Schulz physisch in die Westukraine – nach Drohobycz – gebracht. Dort habe ich durch diesen Autor, dessen Werk ein unerschöpflicher Kosmos für mich ist, sehr intensive Kontakte geknüpft. Das hat seit dem 24. Februar 2022 noch mal eine ganz andere Dimension bekommen. An dem Tag wurde mir wirklich der Boden unter den Füßen weggezogen. Das Erste, was ich gemacht habe, war eine Mail an eine Freundin in Drohobycz zu schreiben – Wera Meniok, die Organisatorin des Schulz-Festivals – mit der panischen Frage, wie die Situation bei ihnen ist. Ich bin dann wenige Tage später nach Przemyśl an den Bahnhof gefahren, um dort zu helfen. Zwei Wochen war ich dort; ich habe alles stehen und liegen lassen. Ich konnte nicht mehr arbeiten.
Literarische Texte sind für mich Türen, die in Erfahrungs- und Begegnungsräume führen. Zunächst sind Bücher nur bedrucktes Papier, aber sie eröffnen Lebenswirklichkeiten.

*Lothar Quinkenstein ist Mitarbeiter des Instituts für Germanische Philologie der Adam-Mickiewicz-Universität (AMU) in Poznań und unterrichtet im Studiengang „Interkulturelle Germanistik“ – eine Kooperation der AMU mit der Viadrina – am Collegium Polonicum.

Interview: Frauke Adesiyan
Foto: Agnieszka Lindner