20 Jahre Polens Beitritt zur EU – Außenministerin Baerbock und Außenminister Sikorski trafen Studierende der Viadrina zum Gespräch

Dass man unter „guten Freunden“ zu aktuellen Themen auch unterschiedlicher Meinung sein kann, zeigte sich beim Besuch von Außenministerin Annalena Baerbock und ihrem polnischen Amtskollegen Radosław Sikorski am 1. Mai 2024 an der Viadrina. Anlässlich des 20. Jahrestages der EU-Osterweiterung trafen sie sich im Beisein der ehemaligen Außenminister Joschka Fischer und Włodzimierz Cimoszewicz zu einem Gespräch mit Studierenden der Viadrina und des Collegium Polonicum, an dem auch Jugendliche des Deutsch-Polnischen Jugendwerkes und des Jugendparlamentes der Wojewodschaft Lubuskie teilnahmen.

Auf einen Austausch zu den „brennenden Themen unserer Zeit mit unseren klugen und ambitionierten Studierenden“ freute sich Viadrina-Präsident Prof. Dr. Eduard Mühle in seiner Begrüßung. Diese Erwartung lösten die rund 40 Teilnehmenden mit ihren Fragen rund um die Zukunft und die Bedeutung der deutsch-polnischen Beziehungen, den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, die Außenpolitik der Europäischen Union und die Bedeutung von Bildung für die deutsch-polnischen Beziehungen ein. 

„Dieses Gespräch mit Ihnen ist für uns von großer Bedeutung“, so Moderatorin Pola Ostałowska, selbst Absolventin des Viadrina-Studiengangs German and Polish Law, „denn wir sind diejenigen, die täglich in unserem internationalen Miteinander das gemeinsame Europa leben, die deutsch-polnische Grenze überqueren und auch in Zukunft Brücken bauen wollen.“ Der 1. Mai stehe ganz im Zeichen des 20. Jubiläums der EU-Osterweiterung; was bedeute dieser Tag für die beiden Außenminister?  Radosław Sikorski betonte, der Beitritt Polens zur EU vor 20 Jahren sei ein „Coming Home“ gewesen: „Polen war niemals aus Überzeugung Teil der sowjetischen Zone. Für uns war und ist die Mitgliedschaft in der EU eine Befreiung.“ Annalena Baerbock fügte hinzu: „Es ist wichtig, dass wir uns daran erinnern, dass die Osterweiterung nicht vom Himmel gefallen ist; wir haben sie den vielen Menschen zu verdanken, die sie durch ihr konsequentes Handeln auch gegen Widerstände erwirkt haben.“ Sich daran zu erinnern, sei heute und für zukünftige Erweiterungen der EU zentral.

Die Europäische Union als Sicherheitsunion

Wie Polen und Deutschland gemeinsam in der EU zur Bewältigung der drängenden Herausforderungen, wie Klimakrise und Sicherheitsfragen, beitragen könnten, fragten Maksymilian Włodarski und Jakub Małolepszy, die beide German and Polish Law studieren. „Mit dem Krieg Russlands sind wir an einem Wendepunkt: Wir müssen uns jetzt entscheiden, ob die Europäische Union auch eine Sicherheitsunion und damit eine starke militärische Macht wird“, sagte Baerbock. Um darauf hinzuwirken, sei das Weimarer Dreieck als Zusammenschluss der starken Staaten Polen, Frankreich und Deutschland von zentraler Bedeutung. Sikorski pflichtete bei und betonte, dass Polen gemeinsam mit Deutschland und Frankreich entschieden in Sicherheit investiert. Deutschland und die EU stünden vor einer großen Veränderung, schloss der ehemalige Außenminister Fischer an: „Es ist neu, dass wir in militärischen Dimensionen denken müssen. Es gibt keinen Weg zurück zum pazifistischen Selbstverständnis der deutschen Nachkriegszeit, weil Russland sich nicht ändern wird. Europa muss sich schützen vor dem neoimperialistischen Russland und gemeinsam mit den USA so stark sein, dass niemand daran denkt, uns zu bedrohen.“ Dass dabei die Zusammenarbeit Deutschlands und Polens elementar sei, unterstrich auch der ehemalige Außenminister Cimoszewicz: „Die Union braucht Veränderungen. Mein Traum wäre, dass die politischen Führer unserer beiden Länder gemeinsam initiativ werden, um die EU gegen antidemokratische Kräfte von innen und außen zu stärken.“

 20 Jahre Polen in der Europäischen Union: Zu diesem Anlass besuchten die Außenminister Deutschlands und Polens, Annalena Baerbock und Radosław Sikorski, am 1. Mai 2024 das Collegium Polonicum und die Europa-Universität Viadrina.


Russische Vermögenswerte als unvereinbarer Streitpunkt? 

Mariia Borysenko, Studentin des Studiengangs Politik und Recht, griff die Lage in der Ukraine auf. Die Ukraine brauche dringend militärische Unterstützung; warum nutze man dafür nicht die eingefrorenen russischen Vermögenswerte? „Die Antwort darauf ist komplex“, so Baerbock. „Es ist klar, dass Russland nicht nur einen Krieg gegen die Ukraine führt, sondern gegen die westlichen Demokratien und rechtsstaatliche Prinzipien. Gleichzeitig müssen wir klug und nachhaltig handeln und die Interessen abwägen.“ Das bedeute, dass die breite Allianz gegen den Krieg in der Ukraine nicht durch den kontrovers diskutierten Einsatz der eingefrorenen Vermögenswerte gefährdet werden dürfe. Sikorski widersprach: „Russland hat eindeutig die UN-Charta verletzt. Es ist daher die Pflicht der internationalen Gemeinschaft, den Aggressor zu bestrafen und die angegriffene Seite zu unterstützen.“ Russland wisse, dass es das Vermögen nicht zurückbekomme. Die einzige Frage sei, ob die Ukraine das Geld jetzt für ihre Verteidigung erhalte oder erst für den Wiederaufbau. „Wir sollten der Ukraine das Geld jetzt geben“, zeigte er sich überzeugt. Baerbock entgegnete, man dürfe zugleich die möglichen Folgen eines solchen Handelns nicht unterschätzen: „Wenn starke Wirtschaftsmächte sich aus der EU zurückzögen, würde das den Euro schwächen. Wir müssen aufpassen, dass unsere Instrumente nicht zum Bumerang gegen uns selbst werden.“ Der ehemalige Außenminister Joschka Fischer vermittelte, dass beide Positionen nicht so unvereinbar seien, wie es scheint: „Die Unterstützung für die Ukraine ist unumstritten. Es kann auch eine Perspektive sein, weitere Unterstützer für die Verwendung des eingefrorenen Vermögens zu finden.“

Gemeinsame Migrationspolitik und Bildungsangebote

Die Perspektive der Diskussion weitete Artem Hakobyan. Der aus Armenien stammende Student des Master of Human Rights and Humanitarian Law berichtete von den Herausforderungen, als gut ausgebildeter Jurist und Menschenrechtsexperte den Wechsel vom Studium in den Beruf in der EU zu bewältigen. Baerbock betonte, dass sie selbst von offenen Binnengrenzen überzeugt ist. „Wir brauchen eine gemeinsame Migrationspolitik in der EU. Zugleich aber müssen wir auch umsichtig handeln.“

Linguistik-Studentin Zoe Schumann lenkte den Blick mit ihrer Frage wieder zurück auf die deutsch-polnische Perspektive. Sie beobachte eine Asymmetrie an Wissen und Sprachkenntnissen zwischen Deutschland und Polen. „Müssen daher Deutschland und Brandenburg nicht mehr tun für den polnischen Spracherwerb und die Wissensvermittlung zu Polen?“, so ihre an Sikorski gerichtete Frage. Der reagierte prompt und eindeutig: „Die Antwort ist ja.“ Seit Jahren setze man sich dafür ein; tatsächlich aber gebe es bereits zahlreiche gute Beispiele und Projekte in dem Bereich, für ihn ein Ausdruck der sehr guten deutsch-polnischen Zusammenarbeit und Freundschaft. Baerbock räumte ein, dass auch die Nachfrage entscheidend ist: „Bildungsangebote müssen auch angenommen werden.“ Zugleich gebe es „eine ganze Menge toller gemeinsamer Projekte“, wie etwa die gemeinsam erarbeiteten deutsch-polnischen Geschichtsbücher, die zeigten, „wie weit vorangeschritten wir sind in unseren guten deutsch-polnischen Beziehungen.“

Besuch am Collegium Polonicum

Begonnen hatte der Besuch am Vormittag in Słubice. Dort hatten Viadrina-Präsident Prof. Dr. Eduard Mühle und der stellvertretende Rektor der Adam-Mickiewicz-Universität Poznań, Prof. Dr. Tadeusz Wallas, Annalena Baerbock und Radosław Sikorski am Collegium Polonicum begrüßt.

Bei einem Gang über das Europafest vor dem Collegium Polonicum besuchten die Außenminister auch den Stand des verbuendungshaus fforst, einem von Studierenden der Viadrina selbst verwalteten Wohnprojekt. Neben der Vorstellung ihres Projekts, nutzten die Studierenden den Besuch, um die aktuellen stationären Grenzkontrollen und das damit verbundene racial profiling  in der Doppelstadt zu kritisieren und hoben die Dringlichkeit des Problems für viele Grenzgängerinnen und Grenzgänger hervor.


Text: Michaela Grün
Fotos: Heide Fest

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