Der Blick hinter die „rote Linie“: Ansätze für mehr Spielraum in der Konflikt-Vermittlung
Das Thema des jüngsten Research-Factory-Vortrages vom Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION konnte aktueller nicht sein: Dr. Anne Isabel Holper, Co-Leiterin des Center for Peace Mediation an der Viadrina, erläuterte am 19. Januar 2022 am Beispiel des aktuellen Ukraine-Konfliktes zwischen Russland und der deutschen Bundesregierung, wie sich das Aussprechen „roter Linien“ auf politische Verhandlungsprozesse auswirkt.
April 2021, Russlands Präsident Wladimir Putin sagt in seiner Rede an die Nation: „(…) Ich hoffe, dass niemandem in den Sinn kommt, Russland gegenüber die sogenannte rote Linie zu überschreiten. Wo sie verläuft, das werden wir in jedem konkreten Fall selbst entscheiden.“ Eine der Linien ist: die NATO darf die Ukraine nicht als Mitglied aufnehmen; parallel verdeutlicht US-Präsident Joe Biden seine „roten Linien“. Und im Januar 2022 betont Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht vor dem Bundestag: „Die staatliche Souveränität unserer östlichen Nachbarn ist unantastbar (…). Diese roten Linien müssen klar sein (…).“ Und nun? „Wie bekommt man als Vermittler wieder Spielraum in eine solche rote-Linien-Anordnung?“, fragt Dr. Holper.
Am Beispiel der gegenwärtigen Ukraine-Krise erläuterte die Mediationsforscherin Dr. Anne Isabel Holper in ihrem interaktiv angelegten Online-Vortrag, was nach dem Verkünden von „roten Linien“ mit Konfliktvermittlungsbemühungen passiert. Gemeinsam mit Dana Landau von der Schweizerischen Friedensstiftung Swisspeace arbeitet sie aktuell an einem Forschungsprojekt zum Umgang mit „roten Linien“ in der Friedensvermittlung. In ihrem Vortrag stellte sie den 46 Teilnehmenden aus den Bereichen Grenz-, Konflikt und Kommunikationsforschung einen Zwischenstand ihrer Arbeit vor.
Was ist eine „rote Linie“?
Holper als Mediationsforscherin definiert die „rote Linie“ als einen pragmatischen Begriff: „eine kommunizierte Grenze des aus Sicht eines Akteurs strategisch, politisch, normativ oder territorial Akzeptablen oder Verhandelbaren“. Oft sei diese Linie mit Drohungen unterlegt, da sie die Nachfrage herausfordere: „Und was passiert, wenn sie überschritten wird?“
Was steckt hinter „roten Linien“?
Um trotz einer ausgesprochenen Linie in Konflikten weiter vermitteln zu können, müsse man vor allem herausfinden, welche tatsächlichen Interessen dahinterstecken. Das sei schwer, weil das Kommunizieren solcher „roten Linien“ genau diese dahinterliegenden Werte verdecke. Dabei handele es sich oft, so Holper, um normative Interessen wie den Erhalt einer Ordnung oder die Vermeidung von Kosten oder strategische Interessen wie die Kontrolle des verhandelbaren Themenspektrums oder Demonstration der Einhaltung eigener Regeln. Diese Interessensbereiche können parallel auftreten, wodurch eine schwierige Komplexität entstehe, wenn es um ihre Entschlüsselung geht.
Was bewirken „rote Linien“?
Das Verdecken der eigentlichen Interessen, fuhr Holper fort, steigere oft das Eskalationsrisiko, weil jene aus Unkenntnis im weiteren Konfliktverlauf auch ungewollt angetastet werden könnten und dies eine kaum nachvollziehbare Eskalationskette hervorrufen könnte. Außerdem führten „rote Linien“ zu einer „Einschränkung des Verhandlungsspielraums“ für alle beteiligten Akteure, weil sie Themen und Interessen tabuisieren. Dies wiederum ziehe die paradoxe Folge nach sich, dass diese „Verabsolutierung von Anliegen deren genaue Auslotung und die Entwicklung geeigneter Lösungsoptionen verhindert“.
Dazu komme eine „Trigger“-Wirkung: Andere Beteiligte werden Wege suchen, hinter diese „rote Linie“ auf die Interessen schauen zu können, was wiederum Eskalationsrisiko mit sich bringt. Daraus entstehe ein Trilemma, in dem aktuell auch die deutsche Bundesregierung angesichts des Ukraine-Konfliktes stecke. „Die ,rote Linie‘ diktiert ein Gesprächsverbot“, so Holper; sie stelle eine Norm auf, die nicht mehr verhandelbar ist. Friedensvermittler müssten nun innerhalb dieser gesteckten Tabu-Zone zwischen der Wahrung der „roten Linie“ und der dahinterstehenden Interessen, der Auslotung möglicher weiterer Verhandlungsoptionen und der Einhaltung der eigenen „roten Linien“ agieren, ohne Eskalationen zu provozieren.
Welche Strategien können „rote Linien“ entschärfen?
Als mögliche Entschlüsselungsstrategien kommen, wie Holper anschaulich auch anhand des Ukraine-Beispiels aufzeigte, drei Varianten in Frage:
- der Umweg, der eine genauere Definition der „roten Linie“ bringen könnte: Auf welchen anderen Schauplätzen könnten die Akteure über Einflusssphären sprechen können?
- die Ausnahme, die Kriterien der Interessen verdeutlichen könnte: Welche Zusicherungen können gemacht werden, ohne die eigene Linie zu verlassen?
- das Verschieben, das eine Präzisierung der zu schützenden Interessen erzielen könnte: Welche Sicherheiten würden konkret welche Freiheiten ermöglichen?
Im Kern müssen auch hier, so macht es Holpers Präsentation deutlich, in weiteren Verhandlungen die echten Interessen konkret herausgefunden werden, um im Sinne einer realistischen und für alle annehmbaren Lösung zu vermitteln.Im Falle des Ukraine-Beispiels spiegeln sich auch diese Frage in der Presse wider, wenn Analysen fragen: „Was will Putin eigentlich?“; aber auch: „Auf welche Linie wird sich die Ampel-Bundesregierung einigen?“
(Peggy Lohse)