„Das böse Brüssel“ – Diskussion über Strategien der kritischen Europa-Studien im Umgang mit wachsender EU-Skepsis

Die Kritik gegenüber der EU wächst, nicht erst seit der Eurokrise. Der Brexit zeigt eine Entwicklung an, die zu weniger statt mehr europäischer Integration führt. Welche Antworten finden die Sozialwissenschaften darauf? Wie könnten politische Strategien aussehen, mit EU-Kritik umzugehen? Diese Fragen erörterte Prof. Dr. Timm Beichelt während des Wintersemesters mit Studierenden des Masterstudienganges European Studies (MES). Am 7. Februar 2022 bot er ihnen zum Semesterende die Möglichkeit, das Gelernte mit Expertinnen und Experten zu diskutieren.

Zu der hochschulöffentlichen Podiumsdiskussion via Zoom waren drei Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eingeladen, die sich auch beruflich mit diesem Thema befassen: Julia Klein, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Magdeburg und Leiterin des Projektes „TruLies: The Truth about Lies on Europe“, Stefan Kunath, Doktorand an der Viadrina und Kandidat für DIE LINKE bei der Bundestagwahl 2021, und Viadrina-Absolventin Dr. Linn Selle, Referatsleiterin Europa bei der Landesvertretung Nordrhein-Westfalen und Präsidentin der Europäischen Bewegung Deutschland.

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Eine verstärkte Emotionalisierung des europapolitischen Diskurses beobachtet Julia Klein (Foto oben) seit der Eurokrise. Sie bringt dies in Zusammenhang mit dem Anwachsen populistischer Kräfte innerhalb des EU-Parlamentes und in den Regierungen der Mitgliedsstaaten. Eine wichtige Strategie, um der EU-Kritik zu begegnen, sei für sie deshalb, Debatten zu versachlichen und einer verkürzenden Darstellung komplexer Sachverhalte entgegenzutreten.

Linn Selle (Foto unten) betrachtet es als essentiell, „das Feld der Kritik nicht den Populisten“ zu überlassen. Denn, dazu herrscht Einigkeit, Kritik an den EU-Institutionen und einzelnen politischen Entscheidungen ist notwendig. Es komme aber darauf an, diese so zu formulieren, dass sich dadurch etwas verbessere, sagt Julia Klein. Sie unterscheidet deshalb zwischen Europa-Populismus und Europa-Skepsis und veranschaulicht dies am Beispiel der Migrationsbewegungen nach Europa. Während Europa-Populisten einfache Antworten gäben, die nur scheinbar eine Lösung darstellten („Grenzen schließen!“), seien Europa-Skeptiker darum bemüht, konstruktive Vorschläge zur Lösung des Problems in den politischen Prozess einzubringen. Man konnte in der Vergangenheit beobachten, so die Politikwissenschaftlerin, dass jegliche EU-Kritik in die rechte Ecke geschoben wurde. „Diese Stigmatisierung hat aber populistischen Akteuren in die Karten gespielt“, stellt sie fest.

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Selle sieht eine Ursache der zunehmenden EU-Kritik in der unbefriedigend gelösten Frage der Kompetenzverteilung zwischen der EU-Ebene und den Nationalstaaten. Als Beispiel führt sie die Sozialpolitik an. In diesem Politik-Bereich könnten die Nationalstaaten manche Themen sinnvollerweise nicht mehr allein entscheiden – Stichwort Mindestlohn –, auf der EU-Ebene fehle aber die Kompetenz dazu. Hier müsse man Strukturen verändern. Klein ergänzt, dass manche Akteure diese Problematik der vermeintlich unklaren Zuständigkeiten sogar gezielt als Strategie nutzten: Unpopuläre Entscheidungen würden als „vom bösen Brüssel diktiert“ dargestellt. Ob nun gewollt oder nicht – als Resultat dieses Taktierens schwinde die Akzeptanz der EU und die Europaskepsis verstärke sich.

Bleibt die Frage, wie eine kluge Strategie aussehen könnte, mit der Kritik an der EU umzugehen. Klein sagt, dass man sich die Gründe für die EU-Kritik genau ansehen müsse, denn ein wesentlicher Treiber für europafeindliche Einstellungen seien die Absturzängste der Mittelschicht, die soziale Ungleichheit. Für Kunath ist es entscheidend, bei politischen Entscheidungen transparent und glaubwürdig zu bleiben. „Es muss auch Raum für Skepsis geben“, resümiert Selle abschließend. Wichtig sei die Lösung von handfesten Sachfragen. Und hier sollten möglichst alle Akteurinnen und Akteure eingebunden werden und miteinander im Gespräch bleiben.
(YM)

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