Putins Endgame? Online-Diskussion zur aktuellen Lage in der Ukraine
Das Viadrina-Institut für Europa-Studien (IFES) veranstaltete am 2. März 2022 eine öffentliche Online-Diskussion zur aktuellen Lage in der Ukraine. Eingeladen waren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland, der Ukraine und den USA. Konkret wurde über die Frage diskutiert, welche politischen und gesellschaftlichen Konsequenzen durch die russische Aggression für die Ukraine absehbar seien. Prof. Dr. Timm Beichelt, Inhaber der Professur für Europa-Studien, moderierte die Veranstaltung, die in englischer Sprache stattfand.
Prof. Dr. Oksana Mikheieva, DAAD-Gastdozentin an der Europa-Universität, betonte, dass es ihr derzeit nicht leichtfalle, als Wissenschaftlerin über dieses Thema zu sprechen. Als der Krieg am vergangenen Donnerstag begann, hielt sich die ukrainische Soziologin in Lwiw auf, wohin sie 2014 aus ihrer Heimat im ostukrainischen Donezk geflüchtet war. Als eine Auswirkung des Krieges auf die ukrainische Gesellschaft nannte sie eine veränderte Wahrnehmung der Landesgrenzen. Die Frage, was es bedeute, ukrainisch zu sein, werde nun viel bewusster reflektiert. Man könne den aktiven Prozess des „Nation Building“ beobachten – über sprachliche und religiöse Grenzen hinweg. Außerdem habe sich das Vertrauen in die staatlichen Institutionen und deren Repräsentanten stark erhöht, beispielsweise in den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.
Online zusammengeschaltet: Prof. Dr. Oksana Mikheieva (oben links), Dr. Mikhail Minakov (oben rechts), Dr. Jan C. Behrends und Dr. Susann Worschech. Collage: Heide Fest
Dr. Mikhail Minakov vom Kennan Institute in Washington und ehemaliger Gastdozent an der Europa-Universität, knüpfte an diesen Punkt an. Sein Impulsvortrag fokussierte auf die regionalen und nationalen Machteliten in der Ukraine. Diese erführen derzeit eine Stärkung, so Minakov. Auch wenn einiges an ihm zu kritisieren sei, so habe sich Selenskyj als der richtige Mann zur richtigen Zeit erwiesen: Er inspiriere die Menschen, die ihm in den Schutzräumen zuhörten, gebe der ukrainischen Zivilgesellschaft Kraft und Mut. Auch die Eliten auf regionaler Ebene hätten es verstanden, für die Menschen da zu sein, auf ihre Bedürfnisse zu reagieren.
Dr. Jan C. Behrends, vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung und Lehrbeauftragter für Osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität, beschäftigte sich in seinem Kurzreferat mit den Auswirkungen des Krieges auf die „russische Propaganda-Maschine“. Im Unterschied zu 2014 spiele sie keine Rolle mehr in der Ukraine, ja mehr noch: man könne gerade ihren Zusammenbruch beobachten. Er betonte die Wirkmächtigkeit der Sozialen Medien in der ukrainischen Gesellschaft, die aus der Authentizität ihrer Bilder und Nachrichten resultiere. In Echtzeit Zeuge eines Krieges zu werden, sei verstörend, aber Teil der neuen Realität.
Dr. Susann Worschech, Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Europa-Studien der Viadrina, referierte über das Potenzial der europäischen Gemeinschaft, die derzeitigen Geschehnisse in der Ukraine positiv zu beeinflussen. Einen Hebel sehe sie in der Unterstützung des zivilgesellschaftlichen Widerstandes in der Ukraine. Die Solidarität für die Ukraine sei überall enorm groß, was zu begrüßen sei; allerdings gehe sie mit einem eklatanten Mangel an Wissen über die Ukraine einher. Es sei deshalb wichtig, dieses Wissen zu vermitteln, um zu einer nachhaltigen Solidarität zu kommen. Austauschbeziehungen wie beispielsweise Städtepartnerschaften sollten verstärkt genutzt und die Beitrittsverhandlungen zur EU unterstützt werden. In den Sozialen Medien entstünde eine neue Form der Zivilgesellschaft, die ein hohes Potenzial für kollektiven Aktivismus berge, so die Sozialwissenschaftlerin.
Moderierte die Diskussion: Prof. Dr. Timm Beichelt. Screenshot: Heide Fest
In der an die Veranstaltung anschließenden Diskussion ging es um Möglichkeiten, den Konflikt vor dem Hintergrund einer drohenden nuklearen Eskalation zu beenden. Susann Worschech konstatierte, dass man gerade Zeuge von Putins „Endgame“ sei. Eine Lösung zu finden sei schwierig. Klar sei aber, diese könne es nur ohne Putin geben. Sie hoffe, dass die wirtschaftlichen Sanktionen letztlich zu Putins Absetzung führen.
Als die Frage nach dem Boykott wissenschaftlicher Institutionen in Russland aufkam, brachte sich Viadrina-Präsidentin Prof. Dr. Julia von Blumenthal in die Diskussion ein. Man habe kurz vorher am selben Tag beschlossen, die akademischen Beziehungen auf institutioneller Ebene auf Eis zu legen und folge damit der Linie des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD). Die Universität habe sich diese Entscheidung nicht leicht gemacht. Die Viadrina-Präsidentin betonte ausdrücklich den Unterschied zwischen dem Austausch auf der persönlichen Ebene, der nicht abreißen dürfe, und der Kooperation mit staatlich finanzierten Institutionen.
(YM)