Putin nach Den Haag – wo ist der Weg? Der Krieg in der Ukraine aus völkerrechtlicher Perspektive
Welche Möglichkeiten hält das Internationale Recht bereit, den Angriffskrieg der Russischen Föderation zu ahnden? Ist das Argument der Selbstverteidigung aus juristischer Perspektive haltbar? Diesen Fragen gingen völkerrechtlich profilierte Juristinnen und Juristen der Europa-Universität bei einer Online-Podiumsdiskussion nach. Zur Veranstaltung am 16. März 2022 eingeladen hatte das Institut für Europastudien im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Gegenwartsanalysen zur Mittagszeit“.
Gleich zu Beginn der Veranstaltung wies die Moderatorin der Veranstaltung, Dr. Susann Worschech, auf die zeitgleich stattfindende Sitzung des Internationalen Gerichtshofes hin. Verhandelt wurde an diesem Tag die Dringlichkeitsklage der Ukraine, die das Gericht ersuchte, ein Ende der Gewalt anzuordnen und festzustellen, dass der Krieg keine völkerrechtliche Grundlage habe.
Eine völkerrechtliche Grundlage für einen Krieg sei theoretisch denkbar, erläuterte die Juristin und Expertin für Friedenssicherungsrecht, Anne Fock. Falls der Krieg als ein Akt der Selbstverteidigung zu werten sei. Denn dann gelte eine Ausnahme vom Gewaltverbot, das in der UN-Charta festgelegt ist. Eben dies sei die Argumentationslinie des russischen Präsidenten in seiner Rede am 24. Februar, unmittelbar vor dem Angriff, gewesen, so Fock. Allerdings treffe das in diesem Fall nicht zu, da es keinen Angriff oder unmittelbar bevorstehenden Angriff auf Russland gegeben habe. Im Gegenteil: Die derzeitige unrechtmäßige Gewaltanwendung Russlands könne man als Fortsetzung des Angriffs von 2014 werten, so die Juristin. In jedem Fall sei die Aggression Russlands völkerrechtlich zu verurteilen. Fock gab sich überzeugt, dass auch der Internationale Gerichtshof zu dieser Einschätzung gelangte.
Gegenstand des anschließenden Kurzvortrags von Simon Gauseweg war das Humanitäre Völkerrecht. Es sei die „Notordnung des Völkerrechts“, so der Viadrina-Jurist, und habe das Ziel „Leid maximal zu begrenzen“. Dazu sei es relevant, zwischen legitimen militärischen Zielen, zivilen Personen und geschützten Objekten zu unterscheiden. Werde das Humanitäre Völkerrecht auf eine schwerwiegende Weise verletzt, sei der Tatbestand des Kriegsverbrechens erfüllt. Gauseweg machte dies am Beispiel des von Bomben getroffenen Krankenhauses in Mariupol deutlich: als geschütztes Objekt liege hier der Anfangsverdacht eines Kriegsverbrechens vor.
Wer letztlich über das Vorliegen einer Straftat entscheidet und welche Instanz dazu befugt ist, in dieser Angelegenheit ein Urteil zu sprechen, darüber referierte abschließend Prof. Dr. Kilian Wegner. Das Verbrechen der Aggression sei in jedem Fall begangen worden, außerdem gebe es Anhaltspunkte dafür, dass auch Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorlägen, so der Jurist. Dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag sei es allerdings nicht möglich, hier ein Urteil zu fällen, da sowohl die Ukraine als auch Russland das Römische Statut nicht unterzeichnet hätten und der Hoheit des Haager Tribunals folglich nicht unterlägen. Der Internationale Strafgerichtshof könne lediglich gegen einzelne Personen, wie etwa Putin, wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ermitteln, so der Strafrechts-Experte. Falls hier eine Anklage erfolge und ein Haftbefehl ergehe, wären alle Staaten, die die Hoheit des Internationalen Strafgerichtshofs anerkennen, verpflichtet, den Haftbefehl auf ihrem Territorium zu vollstrecken. Die Erfahrung zeige aber, dass dies selten geschehe, so Wegner. Er rate davon ab, sich in der „Fantasie zu ergehen“, dass man Putin auf der Anklagebank in Den Haag sehen werde – auch wenn es nach der Werteordnung des Internationalen Rechts folgerichtig wäre.
(YM)