Medialer Aktivismus in der Ukraine – Gastwissenschaftlerin Olena Zinenko bei Ringvorlesung „Inside/Outside Ukraine“

Die Journalistin und Medienwissenschaftlerin Olena Zinenko beschäftigt sich mit öffentlichen Events und ihrer Bedeutung für die Medien in der Ukraine. Am 7. Juni 2022 gab die Dozentin von der Nationale W.-N.-Karasin-Universität Charkiw eine Vorlesung im Rahmen der Reihe „Inside/Outside Ukraine. Ukrainian Affairs and Research @Viadrina“. Seit April 2022 ist Olena Zinenko Gastwissenschaftlerin am Viadrina Institut für Europastudien, ihr Aufenthalt wird von der Volkswagenstiftung finanziert.

Im westukrainischen Lwiw fahren am 1. Juni, dem internationalen Kindertag, gelbe Schulbusse durch die Innenstadt. Statt Schulkindern sitzen Stofftiere darin; sie erinnern unter dem Titel „Ausflug, der niemals stattfindet“ an die 243 bis dahin im Krieg gestorbenen ukrainischen Kinder. Es gibt eine Vielzahl solcher symbolischen öffentlichen Events im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine – mit einer tausendfachen Reproduktion vor allem in den sozialen Netzwerken. Olena Zinenko zeigte in ihrer Präsentation einige von ihnen. Sie finden nicht nur in der Ukraine statt: Da ist ein überdimensionales Bild vom gehängten Putin in einem polnischen Fußballstadion, ukrainische Flaggen beim Rammstein-Konzert in Zürich, eine gelb-blaue Stoffbahn vor dem Berliner Reichstag.

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Nach Olena Zinenkos Beobachtung können öffentliche Events die Medien regelrecht zur Veränderung zwingen. In einem historischen Abriss zeigte sie, dass im Jahr 1989 in sowjetischen Medien Fotos und Berichte über eigentlich tabuisierte Themen in der Ukraine auftauchten: ein Krishna-Fest, eine öffentliche Taufe, ein Konzert mit kritischen Künstlerinnen und Künstlern. „Die Zeitungen konnten sich der Realität der Menschen nicht mehr verweigern“, sagte sie. In den 1980er-Jahren eroberten sich die ukrainischen Bürgerinnen und Bürger den öffentlichen Raum zurück, den die sowjetische Propaganda gefüllt hatte, so Olena Zinenko. Sie nennt es „reinventing the public opinion“.

Auch in den folgenden Jahren seien es immer wieder öffentliche Veranstaltungen auf den großen Straßen und Plätzen der Ukraine gewesen, die neue Formen der Berichterstattung erzeugt hätten. Für Olena Zinenko gibt es für die Veranstaltung von Events drei unterschiedliche Intentionen: neben der sowjetischen, propagandistischen Nutzung gebe es eine westliche, konsumorientierte Ausrichtung und schließlich, und hier sieht sie den besonderen Nutzen, eine aktivistische, aufklärerische Art. „Es sind diese Events, die zu neuen medialen Diskursen führen und die unsere Medien von den russischen unterscheiden“, so ihre These.

Der aktuelle Krieg in ihrer Heimat habe diese Entwicklung verstärkt. „Soziale Medien sind jetzt die Mainstream-Medien. Ich habe seit dem 24. Februar 25 neue Telegram-Kanäle abonniert, vier neue Messengerdienste auf dem Handy; ich checke die Nachrichten ständig über Social Media“, beschrieb die Dozentin ihr eigenes Nutzungsverhalten. Wie sehr sie das beschäftigt, was sie dort sieht, war auch in dem Vortrag zu spüren. Etwa, als sie das Foto von einem Queen-Konzert im Jahr 2008 auf einem zentralen Platz in Charkiw einer Aufnahme vom 1. März 2022 gegenüberstellte, nachdem der Platz von der russischen Armee beschossen wurde. „Dort sind auch meine Studierenden gestorben“, sagte sie.

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Olena Zinenko war aus ihrer Heimat Charkiw zunächst nach Krakau geflohen, entschloss sich dann aber, mit ihren beiden Töchtern nach Frankfurt (Oder) auszureisen; schon 2017 und 2019 hatte sie an der Viadrina Forschungsaufenthalte verbracht. „Es war ein bisschen wie nach Hause kommen“, sagt sie. Nun sei es ihr wichtig, mit der Forschung voranzukommen, nicht allzu viel Zeit zu verlieren. Im April wollte sie in Charkiw eigentlich ihre Doktorarbeit verteidigen. Nun hofft sie, ihre Dissertation auf einem anderen Weg abschließen zu können.
(FA)

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