TikTok entschlüsseln – ENS nutzt Datenspenden, um Kurzvideo-Plattform zu analysieren

Für die Datenspende zugunsten der Forschung gilt Ähnliches wie für Blutspenden in der Medizin: je mehr, desto besser. Die Datensammlung von DataSkop, einem Verbundprojekt, an dem auch die European New School of Digital Studies (ENS) beteiligt ist, beschäftigt sich aktuell mit der Kurzvideo-Plattform TikTok. Bis Ende März können Nutzerinnen und Nutzer von TikTok ihre Nutzungsdaten der Forschung zur Verfügung stellen. Danach beginnt unter anderem für Peter Kahlert, Forscher an der ENS, erst richtig die Arbeit.

Herr Kahlert, was genau ist die Aufgabe der ENS bei dem Projekt und was machen Sie dabei persönlich?

Peter Kahlert: Wir sind für die wissenschaftliche Auswertung der Daten zuständig. Indem wir die gespendeten Daten in wissenschaftliche Erkenntnisse übersetzen, wollen wir auch allgemein demonstrieren, was die Methode „Datenspende“ in der Plattformforschung leisten kann, und dazu beitragen, dass sie sich im Spektrum der methodischen Möglichkeiten etabliert.

Doch noch bevor die Datenspende-Software für die Erhebung und Visualisierung entwickelt werden kann, braucht es wissenschaftliche Recherche und Auseinandersetzung mit der Architektur und Nutzungserfahrung der Plattform selbst. Auch dafür bin ich zuständig.

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Im Interview: Peter Kahlert von der European New School of Digital Studies - Foto: ENS


Wie gehen Sie dabei vor?

Ich bin für die Planung und Umsetzung der Auswertung verantwortlich. Das heißt, ich kümmere mich um eine Einschätzung darüber, was wir anhand der Daten werden untersuchen können, und entwickle die Programme, mit denen die Daten weiterverarbeitet und analysiert werden. Da unser Datenspende-Ansatz keine randomisierten, sprich repräsentativen Daten produziert, gestaltet sich die Analyse explorativ: Wie sehen die Daten überhaupt aus, wo verdichten sie sich so, dass quasi „natürliche Experimente“ durchgeführt werden können?

Was verrät uns denn TikTok über sich?

Die gespendeten TikTok-Daten bestehen diesmal aus den Auskünften über eigene, personenbezogene Daten, die Nutzer:innen bei TikTok selbst anfragen können. Wer sich mit seinem Datensatz auseinandersetzt, merkt schnell, dass dieser nicht transparent ist. Wir nehmen auch an, dass die Datensätze, wie man sie von TikTok bekommt, unvollständig sind. Im Unterschied zu Google gibt es keine detaillierte Nutzungshistorie. Man bekommt lediglich eine Liste von Links zu TikTok-Videos mit dem Datum, wann man sie angeschaut haben soll. Man erfährt nichts über deren Inhalte oder über welchen Teil von TikTok diese Kurzvideos ausgegeben wurden. Die fehlenden Inhalte werden über die DataSkop-Software soweit es geht ergänzt, es bleibt dennoch eine vor allem forensische Aufgabenstellung, die Daten chronologisch zu ordnen und den entsprechenden Nutzungsweisen zuzuordnen – ob etwa ein Video über einen externen Link aufgerufen wurde, oder aus dem Feed der „Für-dich“-Seite stammt.

Und welche Antworten erhoffen Sie sich?

Wir möchten gerne einige Hypothesen überprüfen, darunter etwa: Werden TikToks unabhängig von der Uhrzeit angezeigt? Werden TikTok-Videos mit mehr nackter Haut vom Algorithmus bevorzugt (ähnlich wie unser Projektpartner AlgorithmWatch bereits für Instagram beobachtet hat)? Wie persönlich ist die „Für-dich“-Seite letztlich wirklich? Gibt es hier besonders problematische Verbindungen, etwa zwischen „mental illness“ und religiösem Fundamentalismus? Wie viel Werbung zeigt TikTok? Und wie groß ist der Anteil von Werbung, der als solcher nicht zu erkennen ist?
Und nicht zuletzt, nachdem TikTok immer mehr Relevanz als Informationsmedium bei jüngeren Generationen genießt, welche Zusammenstellung von politisch und gesellschaftlich relevanten Themen, wie Klimakrise oder Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, lassen sich in unseren Daten beobachten?

Welchen Nutzen hat das Projekt für die ENS und für die Forschung allgemein?

DataSkop passt wunderbar zur ENS, da die kritische Untersuchung von automatischer Entscheidungsfindung wie etwa die Videoempfehlungen auf YouTube auf die Forschungsinteressen vieler Kolleg:innen und Studierenden treffen.
Dabei stellen Datenspenden eine relativ neue, spannende Alternative zu Panelerhebungen oder klassischen Online-Experimenten und -Befragungen dar. Authentizität und Umfang der gespendeten Daten eignen sich auch für methodische Experimente und ausdauernde Forschung. Als Mitarbeiter der ENS habe ich diese als einen sehr fruchtbaren Ort für solche Unternehmungen erlebt und schätzen gelernt.

Für die Forschung wollen wir zeigen, welches methodische Potenzial im Konzept „Datenspende" steckt.

Von welchem Potenzial sprechen wir da genau?

Die gespendeten Daten erlauben, synthetische Studien auf ihre Plausibilität hin zu bewerten. Solche Studien hat etwa das Wall Street Journal durchgeführt und gezeigt, wie schnell TikTok eine bestimmte Sorte Inhalt verstärkt,  auch politisch – zum Nachteil anderer beliebiger oder gegenteiliger Inhalte. Das zeigt, dass die kritische Analyse echter Nutzungsdaten noch vorwiegend von journalistischen Akteuren und Nichtregierungsorganisationen gestemmt wird. Dabei sind die Daten höchst reichhaltig, da sie über den Zweifel der Künstlichkeit erhaben sind und dadurch ein gewaltiges exploratives Potenzial aufweisen. So lassen sich auch bedenkliche bis schädliche Inhalte, und solche, die gegen die Plattform-Policy verstoßen, aufspüren, die abseits von stark moderierten Suchfragen und Ausgangsinhalten versteckt sind. Für YouTube konnten wir das bereits in unserem ersten Pilotprojekt zeigen. Für TikTok vermuten wir Ähnliches.

Können später daraus auch ganz praktische Dinge abgeleitet werden hinsichtlich der Kontrolle von solchen Angeboten wie TikTok?

Idee und Motivation von DataSkop ist, echte Nutzungs-Daten nicht nur der Forschung, sondern auch den Nutzer:innen selbst zugänglich und verständlich zu machen. Mit DataSkop sehen Nutzer:innen erstmal selbst, welche Daten Plattformbetreiber über sie besitzen. Wir können dadurch auch sichtbar machen, wie wenig davon für Laien und auch Expert:innen nachvollziehbar und aussagekräftig ist. Selbstverständlich würden wir uns sehr freuen, wenn unsere wissenschaftliche Forschung einen Effekt für Gesetzgebung und Kontrolle hat. Dafür ist aber die Ausgangslage sehr schlecht, da vieles, was auf Plattformen stattfindet und nicht stattfinden sollte, von den Plattformen auch explizit untersagt ist und zu einem gewissen Grade auch moderiert wird. Angesichts dieser inhärenten Delegation von Verantwortung ist es sicher sinnvoll, nach der „Temperatur“ auf den Plattformen zu fühlen. Es ist ein nicht nur kompliziertes, sondern auch mitunter kontroverses Feld. Ich wünsche mir deshalb für das Projekt vor allem, dass es Aufmerksamkeit und politisches Moment erzeugt – zumal die kritische Kontrolle von Akteuren wie TikTok oder YouTube nie abgeschlossen ist.

Interview: Heike Stralau

Mehr über das TikTok-Projekt von DataSkop erfahren Sie hier: https://dataskop.net/wie-tickt-tiktok/

Zur Datenspende: https://dataskop.net/download/

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