„Für unsere Gesellschaft ist dieses Stück Kuchen einfach weg“ – Viadrina-Volkswirt Prof. Dr. Georg Stadtmann über Energieschock, Inflationsraten und den Vorteil von Schulden

Wer ins Restaurant geht, tankt oder vor dem Kühlregal im Supermarkt steht, kann es seit einigen Monaten nicht ignorieren: Man bekommt weniger für das gleiche Geld. Das Thema Inflation ist im Alltag angekommen. Im Interview berichtet Viadrina-Volkswirt Prof. Dr. Georg Stadtmann über seine aktuellen Beobachtungen und wie die hohe Inflationsrate seine Lehre verändert.

Herr Stadtmann, Inflation ist wahrscheinlich ein Standardthema in Ihrer Lehre. Verändert die aktuelle Lage daran etwas?
In der Einführungsveranstaltung Makroökonomie gibt es stets einen Block zur Inflation; darin behandeln wir beispielsweise die Frage: Warum ist es wichtig, dass die Inflation gering ist, also bei etwa zwei Prozent? Außerdem reden wir über die Kosten der Inflation für die Volkswirtschaft. Seit der Einführung des Euros 1999 sind die Inflationsraten relativ gering gewesen. Viele Studierende kennen nur diesen Zustand in Zeiten der Europäischen Zentralbank. Da musste ich in der Vorlesung immer mit exotischen Beispielen kommen und habe etwas über Simbabwe oder Venezuela erzählt.

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Prof. Dr. Georg Stadtmann - Foto: Heide Fest



Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation in Deutschland, ist sie für Sie besorgniserregend?
In Deutschland wurde durch die Preisentwicklung der vergangenen Monate viel greifbarer, was Inflation bedeutet. In der Türkei gibt es eine Inflationsrate von 70, teilweise 100 Prozent. Das ist natürlich eine ganz andere Geschichte als in Deutschland, wo wir bei nicht mal zehn Prozent sind. Aber man sieht, dass manche Güter teurer werden, insbesondere Benzin, Heiz- und Stromkosten. Das sind alles Dinge, von denen auch Studierende betroffen sind. Wir haben zudem Effekte, dass verschiedene gesellschaftliche Schichten unterschiedlich betroffen sind. Menschen mit einem geringeren Einkommen geben einen viel größeren Teil ihres Einkommens für Grundnahrungsmittel aus. Die haben eine viel höhere Inflationsrate als sie statistisch berechnet wird.

Hat die aktuelle Inflation in Deutschland historische Ausmaße?
Ja, das würde ich sagen. Wenn keine Lohnsteigerungen folgen, bedeutet die aktuelle Situation, dass die Menschen zehn Prozent weniger Einkommen haben und somit zehn Prozent weniger kaufen können. Das ist ein ganz enormer Einschnitt. Vielleicht können Realeinkommen mit zwei Prozent wachsen; das bedeutet, dass wir den Einkommensverlust erst in fünf Jahren wieder raushaben. Auch bei höheren Einkünften wirkt sich das auf Gewohnheiten aus.

Während die meisten sorgenvoll auf die Inflationsraten schauen, gibt es auch Profiteure. Wer gewinnt in der aktuellen Situation?
Kurz gesagt: Sparer werden enteignet und alle, die derzeit Schulden zu einem festen Zinssatz zurückzahlen, profitieren. Der Staat, der Schulden hat, ist tendenziell ein Gewinner, aber auch Unternehmen und Privatpersonen, die verschuldet sind.

Bräuchte es stärkere staatliche Abfederungen für die Gesellschaft?
Schauen wir uns den Energieschock an: Wenn der Ölpreis anzieht, bedeutet das einfach, dass sich jemand ein Stück von unserem Kuchen rausschneidet und das geht an die Öl exportierenden Länder. Für unsere Gesellschaft ist dieses Stück Kuchen einfach weg. Das nennt man einen Angebotsschock. Diese Schocks kann man als Gesellschaft nicht neutralisieren. Eine Umverteilung von Reich zu Arm ist grundsätzlich immer möglich, dies ist aber eine politische Entscheidung.

Wie erklären Sie sich die aktuelle Situation und können Sie Prognosen anstellen, wie sich die Inflation entwickeln wird?
Generell kann man Inflationsprozesse prognostizieren, solange keine weiteren Schocks kommen, die die Prozesse wieder stören. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, dass schon im Januar 2022 die Inflationsrate über vier Prozent lag, also klar über dem Zielwert von zwei Prozent. Das hatte nichts mit Russland zu tun, sondern mit der Corona-Pandemie. Damals war die Nachfrage mit staatlicher Hilfe stabilisiert worden. Die Leute konnten das Geld aber gar nicht ausgeben, weil das Angebot gestört war. Das fing alles mit dem blockierten Tanker im Suezkanal an. Die Leute hatten Geld und wollten es ausgeben für Güter, wie beispielsweise die Homeoffice-Ausstattung. Die konnte aber nicht geliefert werden. Dieser Schock wird verdaut werden, die Lieferketten sind wiederhergestellt.
Was momentan die Zentralbanken überrascht, ist, dass die Inflation so träge ist und so lange auf hohem Niveau verbleibt. Das kennen wir aber aus der Literatur. Die Rate wird wohl länger nicht auf zwei Prozent sinken.

Interview: Frauke Adesiyan

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