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Die Geschichte der Ukraine beginnt nicht erst am 24. August 1991, als das Land seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion errang. Der Historiker Stephan Rindlisbacher forscht seit Juni 2019 am Zentrum für Interdisziplinäre Polenstudien der Viadrina; für sein Habilitationsprojekt ging er der Frage nach, unter welchen Voraussetzungen im frühen Sowjetstaat die Grenzen zwischen den einzelnen Unionsrepubliken gezogen wurden. In seinem Buch „Die heutige Ukraine und ihre sowjetischen Wurzeln“ geht er gemeinsam mit seinem Kollegen Dimitri Tolkatsch über die traditionelle Nationalgeschichtsschreibung hinaus und weist auf spezifische Probleme der Ukraine in der Gegenwart hin.
Im Rahmen des Grenzgespräches führte Stephan Rindlisbacher sein Publikum durch die wechselhafte und traumatische Geschichte der Ukraine und erläuterte, wie sich ihre Grenzen zwischen den Jahren 1919 und 1991 verschoben haben. Er begann mit der Gründung des Sowjetstaates 1919, erläuterte darüber hinaus die territorialen Anpassungen zwischen 1924 und 1928 und ging zum Schluss noch detailliert auf die Annexion der Krim 2014 und den russischen Angriffskrieg seit Februar 2022 ein.
Im Jahr 1919 wurde die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik ausgerufen, welche nach der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) die mächtigste Unionsrepublik im Gefüge der UdSSR war; sie besaß die zweitstärkste Industrie, galt als Kornkammer des kommunistischen Vielvölkerstaates und verfügte über große Mengen an Bodenschätzen wie Steinkohle, Erdöl, Erdgas und Eisenerz.
Im weiteren Verlauf seines Vortrages gab Rindlisbacher ein Beispiel dafür, welche Auswirkungen auf das Alltagsleben eine bis heute umstrittene Grenze zwischen der Ukraine und Russland hat: Das Gebiet um die ukrainische Stadt Milowe und die russische Stadt Tschertkowo wird durch die Eisenbahnschienen eines Bahnhofs geteilt. Auf ukrainischer Seite fand im 20. Jahrhundert regelmäßig ein Markt statt, auf den die Menschen angewiesen waren. Auf russischer Seite senkte man daraufhin die Marktsteuer, um Ukrainerinnen und Ukrainer zum Einkauf auf russischer Seite zu bewegen.
Die Halbinsel Krim, die spätestens seit der russischen Annexion 2014 die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf sich zieht, nannte Stephan Rindlisbacher als weiteren umstrittenen Fall. Der Historiker berichtete von einer Ausstellung in Moskau aus dem Jahr 2016 zur Geschichte Russlands, bei der ihm der Patriotismus der Russen auffiel. So wurde darin behauptet, der Transfer der Krim 1954 sei eine spontane Entscheidung gewesen und gelte als Geschenk von dem Generalsekretär der kommunistischen Partei, Nikita Chruschtschow. In Wahrheit hing seine Karriere jedoch von der Loyalität der Ukraine zum Kreml ab, insofern sei die Übertragung der Krim ein strategischer Schachzug gewesen. „Es war eher eine Bürde als ein Geschenk“, ergänzte Rindlisbacher schließlich.
Im August 1991 konnte die Ukraine ihre Unabhängigkeit feiern. Als Gegenleistung für den Verzicht der Ukraine auf die auf ihrem Territorium stationierten sowjetischen Nuklearwaffen garantierten Russland, die USA und Großbritannien im Budapester Memorandum von 1994 die Eigenständigkeit und die bestehenden Grenzen des Landes. Ein Versprechen, das Russland seitdem immer wieder brach, sowohl bei der Annexion der Krim 2014 als auch seit dem umfassenden Angriff auf die Ukraine im Februar 2022.
Bei der anschließenden Diskussion war das Publikum besonders daran interessiert, was das „Ukrainisch-Sein“ und die ukrainische Nation ausmache. Mehrere ukrainische Gäste im Senatssaal sprachen über ihre individuelle nationale Identität. Ausschlaggebend sei dabei vor allem die ukrainische Sprache, aber auch der Wohnort und Traditionen wurden genannt. Es gab auch die Meinung, dass Spannungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen, etwa zwischen Arm und Reich, mehr Uneinigkeiten aufbringen, als verschiedene ethnische Hintergründe. Einig waren sich viele darin, dass Russlands Präsident WladimirPutin mit seinem Angriffskrieg die Entwicklung der Ukraine zur eigenständigen Nation und das Bewusstsein dieser eigenständigen Nationalität stoppen wollte – und genau das Gegenteil erreicht habe.
Text und Foto: Charlotte Grünberg
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