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Herr Pohlreich, wie kommen Sie dazu, als Vertreter zweier Bundestagsfraktionen vor dem Bundesverfassungsgericht zu sprechen?
Ich habe mich nach meiner Habilitation an der Humboldt-Universität für den Bonner Kommentar zum Grundgesetz intensiv mit Artikel 103 Absatz 3 des Grundgesetzes beschäftigt, der besagt, dass niemand wegen derselben Tat mehrmals bestraft werden darf. Vor ziemlich genau einem Jahr habe ich auch aufgrund dieser Arbeit einen Anruf vom Justiziar der Grünen-Bundestagsfraktion erhalten, die sich gern in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren zu dem Artikel äußern wollten und dafür meinen Standpunkt interessant fanden.
Worum geht es bei der Verfassungsbeschwerde?
In dem Fall geht es um einen Mann, der in den frühen 1980er-Jahren freigesprochen wurde, nachdem er des Mordes an einer jungen Frau angeklagt worden war. 2010 wurde eine DNA-Spur gefunden, die erneut zu ihm führte. Der Vater des Opfers hat daraufhin sehr viel in Bewegung gesetzt für ein neues Gesetz, das eine Wiederaufnahme der Anklage ermöglichte. Tatsächlich ist Ende 2021 das Gesetz als Paragraph 362 Nummer 5 der Strafprozessordnung in Kraft getreten. Der Beschwerdeführer, gegen den aufgrund dieser Vorschrift das Strafverfahren wiederaufgenommen worden war, hat dann schnell nicht nur die Entscheidung in seinem Fall angefochten, sondern mittelbar auch das Gesetz, das zur Wiederaufnahme geführt hat. Weil er damit ein Bundesgesetz angreift, kann der Bundestag zur Verfassungsbeschwerde eine Stellungnahme abgeben. Hier konnte man sich nicht einigen; die SPD steht hinter dem Gesetz, FDP und Grüne plädieren dagegen. Nachdem diese Parteien und die anderen im Verfahren Äußerungsberechtigten schriftlich Stellung genommen haben, folgt nun am 24. Mai eine mündliche Verhandlung, was am Bundesverfassungsgericht übrigens nur sehr selten vorkommt.
Was ist Ihre Argumentation gegen das Gesetz, das eine Wiederaufnahme von Verfahren erlaubt, wenn neue Beweismittel oder Tatsachen vorliegen?
Strafrecht soll Gerechtigkeit wiederherstellen, indem jemand verurteilt wird, der eine Straftat begangen hat. Zur Gerechtigkeit gehört doch aber auch Verbindlichkeit; die Entscheidung über Schuld darf keine vorläufige sein, Gerechtigkeit verlangt Beständigkeit und Unanfechtbarkeit. Ich frage mich: Kann ein Freispruch Rechtsfrieden herstellen, wenn wir wissen, dass das Verfahren wiederaufgenommen wird, sobald neue Tatsachen und Beweismittel auftauchen? Kann das Strafrecht seinen Zweck dann überhaupt verwirklichen?
Die Befürworter des Gesetzes appellieren stark an den Sinn für Gerechtigkeit. Warum sollte ein Prozess nicht neu aufgerollt werden, wenn neue Hinweise die Schuld nahelegen?
Es stimmt, dem Alltagsverstand erschließt sich das Problem gar nicht. Bei vielen überwiegt die Anteilnahme mit dem Opfer und den Angehörigen. Es gibt die problematische Vorstellung, dass es so etwas geben könne, wie den schon vor dem Strafverfahren erwiesenen Mörder. Ob er das ist, wissen wir aber erst, wenn es eine Verhandlung gibt und Beweis erhoben wird. Das neu aufgetauchte Beweismittel wird praktisch nie das letzte Puzzleteil sein, das zum Nachweis der Schuld gefehlt hat. Der aktuelle Fall verdeutlicht zudem: Es können seit dem Freispruch Jahrzehnte ins Land ziehen, in denen das Erinnerungsvermögen von Zeugen verblasst, Beweismittel vielleicht verloren oder vernichtet wurden. Die Lage für das Gericht bei der Beweisermittlung ist deutlich schlechter als damals; das Risiko eines Fehlurteils größer. Es ist doch besser, acht Schuldige davonkommen zu lassen, als einem Unschuldigen den Prozess zu machen und ihn dem Risiko auszusetzen, fehlerhaft verurteilt zu werden. Richtig ist: Strafrechtspflege, die von den Menschen nicht verstanden wird, kann schwer Frieden stiften. Aber müssen wir deshalb das Strafrecht ändern oder ist es nicht besser, den Menschen zu erklären, warum das ein schmerzhafter Weg ist, aber der einzig richtige?
Welche Folgen befürchten Sie, wenn die Beschwerde scheitert und das Gesetz bestehen bleibt?
Es gibt wenige Themen, die das Strafrecht betreffen, die mich so bewegen. Wenn man die Argumentation des Gesetzes weiterdenkt, steht vieles, was uns heute unumstößlich erscheint, auf tönernen Füßen. Etwa, dass man auch um der Gerechtigkeit willen nicht foltern darf. Das Gesetz klingt unheimlich verführerisch, aber es verführt nur den, der nicht so genau hinguckt. Wer genau hinschaut, den muss das Gesetz erschrecken lassen. Den Müttern und Vätern des Grundgesetzes ging es mit Artikel 103 Absatz 3 darum zu verhindern, dass das Strafrecht – wenn es in die falschen Hände gerät – zu einer gefährlichen Waffe wird. Wenn man Freisprüche aufweichen kann, dann kann man auch den politischen Feind ganz schnell unter Druck setzen. Gerade weil das Strafrecht dem Staat die schärfsten Einschnitte erlaubt, ist es besonders anfällig dafür, instrumentalisiert zu werden. Nicht ohne Grund wird in Russland, in Belarus und im Iran das Strafrecht eingesetzt, um missliebige Proteste zu verhindern und politische Gegner zu schwächen. Dass hierzulande solche Verhältnisse nicht konkret drohen, ist kein Gegenargument: Das Grundgesetz gilt nicht unter dem Vorbehalt, dass hierzulande totalitäre Verhältnisse konkret zu befürchten sind, sondern es schafft überhaupt erst die Voraussetzungen für stabile freiheitlich-demokratische Verhältnisse. Das muss man im Hinterkopf behalten, wenn man über Paragraph 362 Nummer 5 der Strafprozessordnung redet.
Interview: Frauke Adesiyan
Foto: Heide Fest
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