Demokratie konkret: Viadrina-Konfliktforscher Lars Kirchhoff moderiert Kommunalen Entwicklungsbeirat
Seit April 2024 arbeitet der „Kommunale Entwicklungsbeirat Frankfurt (Oder) – Słubice“ an Perspektiven für Zukunftsfragen der Doppelstadt. Das von der ehemaligen Viadrina-Präsidentin Gesine Schwan und der Berlin Governance Platform initiierte Beteiligungskonzept bringt Politik und Verwaltung mit Gestalter*innen aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft zusammen. Viadrina-Konfliktforscher Lars Kirchhoff moderiert den Gesamtprozess gemeinsam mit der Prozessberaterin Kristin Horn. Im Interview berichtet er über die Arbeit in dem binationalen Gremium.
In aller Kürze: Was ist der Ansatz eines Kommunalen Entwicklungsbeirates und welche Expertise hat die Viadrina für ein solches Verfahren?
Ein Kommunaler Entwicklungsbeirat – kurz KomEB – ist ein Gremium aus 35 bis 40 Personen, die die ganze Bandbreite der Lebensrealitäten einer Kommune abbilden sollen, und die im moderierten Dialog Leitbilder und Handlungsempfehlungen für die Politik erarbeiten. Ein KomEB eröffnet einen Gestaltungsraum für Politik und Bürgerschaft, der zu echter Kontroverse, aber eben auch echter Kooperation einladen soll. Ziel ist es dabei, gerade in neuralgischen Zukunftsfragen und komplexen Transformationsprozessen, alle Gruppen mitzunehmen, statt Politik „von oben“ zu betreiben.
Und exakt da liegen auch die Ansatzpunkte für die spezielle Expertise der Viadrina: Sowohl das Thema Transformation im Allgemeinen als auch die deutsch-polnische Kooperation im Besonderen sind Profilthemen der Viadrina. Zudem sind die transparente Arbeit mit divergierenden Interessen sowie der offene Umgang mit Kontroversen methodische Markenzeichen der Angewandten Konfliktforschung an der Viadrina, wie sie sich in den vergangenen 20 Jahren etabliert hat. Die Fähigkeit zu „ehrlichkeitsfördernder“ Moderation und zum transparenten Umgang mit Konflikten war sicherlich ein Hauptgrund für die Anfrage des Frankfurter Oberbürgermeisters René Wilke, ob die Rolle des lokalen Moderators vom Institut für Konfliktmanagement der Viadrina übernommen werden könnte.
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Welchen konkreten Auftrag hat der KomEB in Frankfurt (Oder) und Słubice?
Zunächst abstrakt: Laut Beschluss der Stadtverordnetenversammlung vom April 2024 entwickelt der KomEB ein Leitbild für die mittel- und langfristige Nutzung der Fläche Slubicer Straße (rund um den „Zukunftsplatz“) in Form eines differenzierten Empfehlungspapiers. Dieses soll wiederum Grundlage für die zukünftige Entwicklung der Fläche sein. Zudem soll das Gremium konkrete, von der Stadtgesellschaft getragene, Ideen für die Zwischennutzung der Fläche entwickeln.
In zwei Dialogveranstaltungen haben wir uns ganz konkret mit folgenden Fragen beschäftigt: Wie entstehen Begegnungsräume, die tatsächlich genutzt werden? Soll die Fläche versiegelt und/oder bebaut werden oder gerade nicht? Was passiert mit den vorhandenen Gebäuden; ist eine Wohnnutzung erstrebenswert? Soll ein architektonisches Ausrufezeichen gesetzt werden oder gerade eine pragmatische Nutzung vorherrschen? Welche Bedürfnisse welcher Gruppen sollen sich in der künftigen Nutzung primär abbilden? Wieviel Kommerz verträgt eine gemeinwohlorientierte Nutzung? Welche Rolle spielen Kunst, Bildung, Ökologie und Nachhaltigkeit? Inwiefern sollen Oder und Oderpromenade mitgedacht werden? Wie sieht eine realistische Finanzierung aus? Und wie groß ist die Rolle der deutsch-polnischen Dimension in dem Ganzen?
Wie sieht die Zusammensetzung des KomEB aus und welche Rolle hat die Viadrina in dem ganzen Projekt?
Eine bunt besetzte Steuerungsgruppe hat auf Basis eines umfassenden Akteursmappings etwa 35 Vertreterinnen und Vertreter aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft ausgewählt. Jede politische Fraktion hatte ebenso das Recht, eine Person zu berufen, wie ein breites Spektrum an Organisationen auf deutscher und polnischer Seite. Ziel war es, ein möglichst gutes Abbild der Doppelstadt zu generieren, um die Qualität und Informiertheit der Diskussionen, aber auch den repräsentativen Charakter des Gremiums zu stärken, auch wenn dieses ja gerade keine Entscheidungen treffen kann. Die Viadrina wurde als ein ganz wesentliches Element der Stadt identifiziert. Neben meiner Rolle als lokaler Moderator, sind mit der Vizepräsidentin Janine Nuyken und dem Ukraineexperten Stefan Henkel zwei weitere universitäre Personen im KomEB an Bord. Der Beteiligungsprozess ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Viadrina regionalen Transfer betreibt, eng mit der Stadt kooperiert und sich mit der übrigen Stadtgesellschaft vernetzt.
Können Sie einige Eindrücke aus den ersten beiden Sitzungen teilen?
Bemerkenswert fand ich die Mischung aus inhaltlicher Ernsthaftigkeit und menschlicher Leichtigkeit bei den beiden anderthalbtägigen Zusammenkünften. Wertvoll dafür war eine doppelte Rahmensetzung: Gesine Schwan hat den frisch ernannten Beirätinnen und Beiräten das demokratietheoretische Konzept der Kommunalen Entwicklungsbeiräte in großer Detaildichte erläutert. Diese Komplexität war nicht nur zumutbar, sondern entscheidend für die Motivation der Beteiligten. Und René Wilke hat durch seine Redebeiträge und die Besuche während der Sitzungen klargemacht, dass es sich keineswegs um Pseudopartizipation handelt: Die Politik will genau wissen, was die Menschen von der Fläche erwarten, und mit den Ergebnissen wird wirklich weitergearbeitet werden.
Während beim ersten Mal noch ein gewisses Abtasten – der Menschen vor Ort und auch des Konzeptes – zu spüren war, ging es bei der zweiten Sitzung bereits relativ handfest zu: Die Fläche wurde besucht und inspiziert, Konflikte wurden offen benannt. Besonders eindrucksvoll für viele war es zudem, einen halben Tag im Stadtparlament in Słubice zu arbeiten. Das war wertvoll für die viel zitierte Augenhöhe in dem Projekt.
Und schließlich macht es einfach Freude zu erleben, wie eine 17-jährige polnische Gymnasiastin und ein deutscher Rentner in den Siebzigern gemeinsam an Zukunftsfragen basteln, oder wie die jeweils recht definierten Zukunftsvorstellungen von Künstlern, Wirtschaft und Bauamt in einen echten Dialog treten.
Wie geht es jetzt bis zum Jahresende weiter und wie wird das Ergebnis nach den insgesamt vier Sitzungen aussehen?
Bis zur nächsten Beiratssitzung Anfang September wird es im Rahmen der „Sommerdialoge“ zusätzliche Veranstaltungen geben, bei denen interessierte Bürgerinnen und Bürger – insbesondere auch Schülerinnen und Schüler – ihre Ideen für das Gebiet der Slubicer Straße einbringen können. Auch die Beiratsmitglieder selbst werden Ideen und Szenarien beitragen können, die sie nach derart intensiver Beschäftigung mit der Fläche entwickelt haben, gerade auch zur Frage der Zwischennutzung. In der letzten Sitzung im Oktober wird dann das Ergebnispapier final abgestimmt und anschließend in die Stadtverordnetenversammlung eingebracht. Und dann liegt es an der Politik und der Verwaltung, die Ergebnisse zu achten und aktiv in die weiteren Prozesse einzuspeisen. In den bisherigen Modellkommunen hat das bislang gut funktioniert; es wäre auch politisch unklug, derart komprimierte, in einem diversitätsbewussten Prozess erarbeitete Ideen zu ignorieren.
Ihr Zwischenfazit: Was waren bislang die größten Erkenntnisse, Überraschungen oder Lerneffekte?
Von so vielen möglichen nenne ich mal drei Erkenntnisse. Erstens: Es ist ein echter Segen für den Erfolg des Verfahrens und ein echtes Alleinstellungsmerkmal unserer Stadt, wie hervorragend das technische und inhaltliche Zusammenwirken mit unseren polnischen Partnerinnen und Partnern funktioniert. Ohne die exzellente Simultanübersetzung zum Beispiel oder das sturmerprobte Netzwerk des deutsch-polnischen Kooperationszentrums wäre ein derart fokussiertes, präzises Arbeiten an authentisch komplexen Fragen undenkbar.
Zweitens, und das ist keine Überraschung in der Sache, aber im Ausmaß: Wenn man es wirklich wagt, die Gründe für bestimmte Forderungen zu erfragen und auf dieser Ebene in den tiefen Austausch zu treten, ist mit polarisierenden oder polemischen Tonlagen ganz schnell Schluss, auch an den ganz sensiblen Stellen. Mit anderen Worten: Klar benannte Interessen sind eine deutlich bessere Basis für Kooperation und damit gesellschaftlichen Zusammenhalt als harte, polarisierende Forderungen. Das Ergebnis des Prozesses wird mehr als handfest sein, nur eben der methodische Weg dahin – das Anstreben von Konsens, das aktive Integrieren von Einwänden etc. – ist eine neue Erfahrung für viele.
Und drittens war es eine echte Überraschung, wie beeindruckend und groß die Fläche ist, um die es hier geht, wenn man mit einem Kaffee in der Hand und dem Wissen, dass hier Neues entstehen wird, über sie wandert. Ein so großes Areal – es geht um über 18.000 Quadratmeter – mit so großer Symbolkraft mitten im Zentrum gemeinschaftlich zu entwickeln, ist eine riesige Chance für unsere (Doppel-)Stadt, die den Aufwand mehr als wert ist.
Interview: Frauke Adesiyan
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