Warmherzige Akribie – Benjamin Lahusen im Gespräch mit dem Rechtshistoriker und Liedtexter Michael Kunze
Über Hexenprozesse, Alt-Nazis als Jura-Professoren und die Verurteilung von russischen Dissidenten sprach der Rechtshistoriker Dr. Michael Kunze am 16. Juli 2024 mit Prof. Dr. Benjamin Lahusen, Viadrina-Professor für Bürgerliches Recht und Neuere Rechtsgeschichte. Anlass des Gespräches war Kunzes Arbeit an einer Biografie über den einflussreichen Rechtswissenschaftler Rudolf von Jhering. Mit ihm hat Michael Kunze auch ein großes musikalisches Talent gemeinsam, über das er an diesem Abend aber lieber nicht reden wollte.
Warmherzig ist die Beschreibung, auf die Benjamin Lahusen sich festlegen würde, wenn er Michael Kunze mit nur einem Wort charakterisieren müsste. „Das ist für Juristen keine brauchbare Eigenschaft, aber für Historiker und Biografen ist sie unverzichtbar“, sagte Lahusen in der pointierten Vorstellung seines Kollegen. Michael Kunzes rechtshistorische Arbeiten seien von Gründlichkeit, Akribie und Respekt vor der Sprache genauso geprägt, wie vom Bestaunen der menschlichen Natur – auch wenn diese oft Abscheuliches hervorbringe. Diese Einführung machte neugierig auf das generationenübergreifende Gespräch zwischen den zwei Rechtshistorikern – Michael Kunze ist Jahrgang 1943, Benjamin Lahusen wurde 1979 geboren.
Frauke Adesiyan
Michael Kunze gelang es, die zahlreichen Kolleginnen und Kollegen von der Juristischen Fakultät genauso mit seinen Erzählungen einzunehmen wie das rechtswissenschaftlich nicht vorgebildete Publikum. „Ich wollte Jura studieren, um alle Möglichkeiten zu haben. Ich war so vielseitig interessiert, dass ich mich nicht festlegen wollte“, erinnerte er sich an seine beruflichen Anfänge. Früh beschäftigte ihn die mit der Aufklärung aufkommende Frage, woher Menschen wissen, was Recht ist. „Wir wissen doch genau, dass auch Dinge, die im Gesetz stehen, nicht rechtens sind“, sagte er und verwies als Beispiel auf die Bestrafung von Homosexuellen. „Was sind das für Richter, die Unrecht zu Recht erklären?“, war und ist für Kunze eine zentrale Frage – hervorgerufen auch durch traumatisierende Erfahrungen mit Alt-Nazis in der Professorenschaft seiner Studienzeit. Was Recht ist, werde immer von der Mehrheit der Gesellschaft bestimmt, so Kunze. „Oder glauben Sie, russische Richter würden die Urteile gegen Dissidenten fällen, wenn die Mehrheit der Bevölkerung das nicht gerecht fände?“, lenkte er die Frage in die Gegenwart.
Es sind solche Fragen, die Kunze mit Rudolf von Jhering (1818–1892) verbinden. Zu diesem wohl schillerndsten Juristen des 19. Jahrhunderts forscht der Rechtshistoriker seit Jahrzehnten. Aktuell stellt er eine Biografie über von Jhering mit dem Titel „Das unsichtbare Recht“ fertig. Erste Passagen daraus präsentierte Kunze an diesem Abend. Obwohl von Jhering mit seinem Aufsatz „Der Kampf ums Recht“ bis heute zu den Klassikern der Jura-Ausbildung gehört, fehlte es bisher an einer umfassenden Biografie. Kunze hatte einst als Erster überhaupt den Nachlass seines historischen Vorbildes gesichtet. „Ich habe Sekundärliteratur verachtet und wollte an das Original“, erinnerte er sich. Dieses Originalmaterial hatte damals noch unsortiert in Schachteln im Archiv in Marbach gelegen; Kunze widmete sich ausführlich dieser „ganz wunderbaren Ausbeute“. Die Auswertung sei „die Arbeit eines Kriminalbeamten“ gewesen, sagte er. Die Gründlichkeit, von der Lahusen eingangs gesprochen hatte, wurde an dieser Stelle für das Publikum fassbar. „Man muss eigentlich alles wissen oder zumindest ahnen, um eine Struktur zu erkennen“, sagte Kunze zu seiner Herangehensweise an eine Biografie über einen Menschen, den er nie kennengelernt hat. Den Erfolg Rudolf von Jherings verglich Kunze mit der akademischen Gegenwart: „Von Jhering kannte keine Scheu und keinen Dünkel; er konnte mit Menschen sprechen.“ Auch heute hänge die Karriere eines Wissenschaftlers sehr davon ab, wie kommunikativ er sei und wie gut er schreibe, so Kunzes Überzeugung.
Dass Michael Kunze ein zweites Leben neben dem des Rechtshistorikers hat, blieb an diesem Abend auf Wunsch des Gastes in Andeutungen und Nebensätzen versteckt. Benjamin Lahusen begründete die 14-jährige Bearbeitungszeit von Kunzes Dissertation über Hexenprozesse damit, dass dieser sich „nicht immer nur auf die Dissertation konzentriert“ habe. Für die zeitliche Einordnung von Kunzes Büchern nutzte Lahusen die Zeitrechnung „drei Goldene Schallplatten später“. Die Anspielung, dass es Künstler-Juristen wie Rudolf von Jhering mit dessen Talent fürs Schreiben und Klavierspielen auch heute noch gebe, kommentierte Kunze nur mit einem gemurmelten „Ja, ja, okay“. Offensichtlich genoss er den Abend an der Viadrina in der Rolle des Rechtshistorikers, in der er nicht auf seine über alle Maßen erfolgreiche Tätigkeit als Songschreiber („Ich war noch niemals in New York“, „Ein Bett im Kornfeld“, …) und Musical-Librettist („Tanz der Vampire“, „König der Löwen“, …) reduziert wurde. Dem Publikum bewies er, dass er auch abseits des Rampenlichtes als Biograf und Forscher warmherzig zu unterhalten weiß.
Frauke Adesiyan
Zurück zum Newsportal