Zwischen Kontrolle und Bedrohung – wissenschaftliche Bestandsaufnahme zu den Auswirkungen der Binnengrenzkontrollen zwischen Frankfurt (Oder) und Słubice
Am 16. Juli haben der Sozialwissenschaftler Dr. Marcus Engler und die Sozialwissenschaftlerin Lea Sophie Christinck die kurz zuvor veröffentlichte Kurzexpertise zu den Auswirkungen der Binnengrenzkontrollen zwischen Frankfurt (Oder) und Słubice an der Viadrina vorgestellt. Die Forschenden vom Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung Berlin (DeZIM) sprachen über die Effektivität der Maßnahmen und den Einfluss auf aktuelle Migrationsdiskurse.
„Wir haben vor zwei Monaten 20 Jahre Osterweiterung der Europäischen Union gefeiert, heute müssen wir uns aber mit der Tatsache beschäftigen, dass es diese Grenzkontrollen gibt auf der Brücke und was das bedeutet.“ So leitet PD Dr. Estela Schindel vom Institut für Europa-Studien der Viadrina (IFES) die Vorstellung des Gutachtens zu Auswirkungen von Binnengrenzkontrollen ein. Der Hintergrund: Bis auf zwei Ausnahmen gehören alle EU-Mitgliedstaaten auch dem Schengenraum an, in dem Personenkontrollen an Binnengrenzen abgeschafft wurden. Doch die Realität sieht an einigen dieser Grenzen anders aus. An der deutsch-österreichischen Grenze wurden bereits 2015 wieder stationäre Grenzkontrollen etabliert. Seit Mitte Oktober 2023 auch an den deutschen Grenzen zu Polen, Tschechien und der Schweiz. Auch zwischen Słubice und Frankfurt (Oder).
Die Sozialwissenschaftlerin Lea Christinck und der Sozialwissenschaftler Dr. Marcus Engler haben in ihrem Gutachten, das von der Brandenburger Landtagsfraktion Bündnis 90/ Die Grünen in Auftrag gegeben wurde, untersucht, welche Einflüsse die wiedereingeführten Kontrollen haben und wie effektiv sie sind. Nach der Begrüßung durch Estela Schindel beginnt Christinck mit einer kurzen Erläuterung der rechtlichen Situation, auf deren Basis die wiedereingeführten Kontrollen aktuell stattfinden. Sie erklärt, dass Binnengrenzen nur temporär und unter bestimmten Bedingungen wiedereingeführt werden dürfen, vor allem aber müssen sie verhältnismäßig sein. Seitdem es den Schengenraum gibt, sei davon immer wieder Gebrauch gemacht worden, so Christinck, das sei nichts Neues. Was sich aber stark verändert habe, seien die Häufung und die Dauer von Binnengrenzkontrollen sowie die Begründungen, warum sie stattfinden. Im April 2024 wurde eine Reform des Schengener Grenzkodex bestätigt, die 2021 angestoßen worden war. Damit wurden auch die Begründungen für Grenzkontrollen reformiert. „Dazu gehört jetzt eine plötzliche und hohe Zunahme unautorisierter Sekundärmigration zwischen den Mitgliedstaaten. Migration war vorher explizit ausgenommen“, erklärt Lea Christinck.
Marcus Engler schließt an, dass er in der Debatte um Migration eine Art restriktiven Wandel wahrnehme. Dabei gehe es oft um ein Gefühl der Sicherheit. Die Botschaft dahinter: Migration sei etwas Gefährliches. In der Debatte werde oft ausgeblendet, „dass die Menschen häufig keine andere Wahl haben“, so Engler. Seine Aufgabe als Wissenschaftler sehe er auch darin, bestimmten Narrativen etwas entgegenzustellen. Er beobachtet eine Entkopplung der Debatte von den Fakten. Wissenschaftliche Evidenz spiele in der Entscheidungsfindung zu migrationspolitischen Themen häufig keine Rolle, sagt Engler.
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Als Beispiel dafür führt er die Begründung der Kontrollen mit einer angeblichen Zunahme der irregulären Einreisen an. In einer Pressemitteilung des Bundesministeriums des Innern und für Heimat (BMI) hieß es am 16. Oktober 2023 beispielsweise: „Die Schleusungskriminalität an den deutschen Grenzen zu Polen, Tschechien, Österreich und der Schweiz hat sich weiter verschärft. Bis Anfang Oktober 2023 hat die Bundespolizei bereits etwa 98.000 unerlaubte Einreisen nach Deutschland festgestellt, im Jahr 2022 waren es insgesamt etwa 92.000.“ Die Grenzkontrollen seien also notwendig geworden, weil es eine Zunahme an irregulären Einreisen und von Schleusungen gegeben habe. Laut Marcus Engler lasse sich hier ein „fast erschütternder“ Logikfehler erkennen. Wenn man mehr Kontrollen einführe, sei auch klar, dass man mehr Leute erfasse. Zu argumentieren, dass das ein tatsächlich erhöhtes Migrationsaufkommen abbilde und damit längere Binnengrenzkontrollen zu rechtfertigen, sei abenteuerlich.
Seit Anfang dieses Jahres sinkt die Zahl der Asylanträge in Deutschland. Das auf die Binnengrenzkontrollen zurückzuführen, sei aber zu einfach, sagt Engler. Die Zahl der erfassten Einreisen in die gesamte EU sei rückläufig. Auch in den Nachbarländern lasse sich kein Anstieg erkennen. Es scheint also nicht so zu sein, dass Schutzsuchende, die wegen der Binnengrenzkontrollen nicht nach Deutschland kommen,auf andere EU-Länder ausweichen, so seine Argumentation. Zudem blenden die Zahlen aus, dass dahinter 20 bis 30 verschiedene Herkunftsländer stehen, mit unterschiedlichen Fluchtursachen, Geschichten und Faktoren.
Die Kurzexpertise sei nicht als abgeschlossene Forschung zu verstehen, eher als eine erste Einschätzung, an der weitergearbeitet werden soll. Es sei ein work in progress, unterstreicht Marcus Engler. Dennoch ließen sich einige Rückschlüsse ziehen. So erläutert Lea Christinck abschließend die negativen Auswirkungen der Grenzkontrollen. Immer wieder komme es an den Binnengrenzen zu Zurückweisungen. Laut Medienberichten und Nichtregierungsorganisationen, die zu dem Thema arbeiten, betreffe dies vor allem Menschen ohne gültige Reisedokumente oder Aufenthaltspapiere. Wenn Drittstaatsangehörige trotz Äußerung eines Asylgesuchs am Übertritt der Grenze gehindert werden, verstoße das gegen das Völkerrecht, so Lea Christinck: „Es wird also mit einer Fiktion der Nicht-Einreise gearbeitet.“ Dieses rechtswidrige Handeln nachzuweisen, sei kaum möglich, da die Betroffenen vielleicht nicht mehr in Deutschland seien oder keinen Rechtsstreit eingehen wollen. „Hier bräuchte es vertiefende Untersuchungen der Praktiken der Polizei,“ erklärt Christinck.
Andere negative Auswirkungen haben die Grenzkontrollen auch auf den Grenzverkehr, das treffe vor allem Pendlerinnen und Pendler sowie die Wirtschaft – besonders die regionale. Außerdem verursachen die Grenzkontrollen hohe Kosten und Personalbindung. Im April dieses Jahres seien 16 Hundertschaften der Bundespolizei allein für die Grenzkontrolle gebunden gewesen. Dabei stellt sich für die Forschenden die Frage nach der Verhältnismäßigkeit.
Zusammenfassend sagt Marcus Engler, dass sich eine zunehmende Politisierung der Debatte beobachten lasse. Wenn politische Akteure die Sinnhaftigkeit oder Verhältnismäßigkeit der Binnengrenzkontrollen in Frage stellen oder kritisieren, werde dem oft mit Horrorgeschichten begegnet. Wer die Kontrollen abschaffen will, dem werde das oft als Inkaufnehmen von mehr Gewalt, mehr Islamisten, mehr Morden ausgelegt. „Auf diesem Niveau bewegt sich die Debatte, das muss man erstmal aushalten,“ beschreibt Engler den momentanen Diskurs. „Man erzeugt einen Eindruck von Kontrolle, die Schattenseite ist, dass man eben auch ein Narrativ von Unsicherheit, von Bedrohung, von Belastung permanent reproduziert.“ Damit solle auch ein Signal der Abschreckung ausgesendet werden. „Aber die Menschen, die wirklich Schutz brauchen, lassen sich davon nicht abhalten, sie haben keine Alternativen,“ so Engler.
Organisiert wurde die Veranstaltung vom Institut für Europa-Studien der Europa-Universität Viadrina (IFES) und dem Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION. Estela Schindel moderierte die Veranstaltung.
Lea Schüler
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