„Überdosis Diversität“ – 10. Viadrinicum ist Sommerschule und Alumnitreffen zugleich
In zehn Jahren hat sich das Viadrinicum von einer Ukraine-Sommerschule zu einem diversen, internationalen Lern-Angebot zwischen Praxis und Theorie entwickelt, das Teilnehmende und Geldgeber gleichermaßen schätzen. Dahinter stecken Organisatoren, die immer wieder neu Struktur und Freiräume ausbalancieren und engagierte Teilnehmende, die zu einer Viadrinicum-Community heranwachsen. Einblicke in das 10. Viadrinicum, das vom 19. bis zum 31. August 2024 stattgefunden hat.
Weibliche Plastiken auf Frankfurts Straßen und Plätzen, eine mögliche Wiederbelebung des alten Frankfurter Gaswerkes als Kulturort, der alltägliche deutsch-polnische Austausch auf dem Basar in Słubice – die Teilnehmenden der zehnten Sommerschule Viadrinicum tauchen zwei Wochen lang tief ein in die Geschichte und Gegenwart der Doppelstadt. In Stadtführungen, Seminaren, Gesprächen mit städtischen Akteur*innen und drei methodisch unterschiedlichen Werkstätten entwickeln sie ihre Projekte. „Es ist total inspirierend, diesen Prozess zu sehen, vom Kennenlernen total fremder Menschen bis zum Finden eines gemeinsamen Ausgangspunktes für ihre Arbeiten“, sagt Erleta Morina aus Pristina, die eine der drei Werkstätten anleitet. Vor einem Jahr kam sie als Teilnehmende der Sommerschule zum ersten Mal an die Viadrina, nun ist sie als Teil des Teams zurückgekehrt und gestaltet die diesjährige Ausgabe mit. So wie ihr geht es vielen: Das Programm übt mit seinem besonderen Format eine wiederholte Anziehungskraft aus. Neben der aktuellen Ausgabe scheint ein inoffizielles Viadrinicum-Alumnitreffen stattzufinden.
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Danach gefragt, worin der besondere Geist des Viadrinicum besteht, sprechen die jungen Forschenden, Künstler*innen und Aktivist*innen, die einen der begehrten Plätze erhalten haben, immer wieder von der großen Vielfalt. „Es ist diese Diversitäts-Überdosis, die mich wieder hierhergebracht hat“, sagt der Physiklehrer Kastriot Kukaj aus Montenegro. Im vergangenen Jahr hat er teilgenommenn diesem Jahr ist er zurückgekehrt, um die Viadrinicum-Community erneut zu erleben. „Ich habe mich hier von Anfang an einbezogen gefühlt. Alle, die lernen und sich entwickeln wollen, sind hier willkommen“, so seine Erfahrung. Die Diversität geht dabei weit über die Herkunftsländer der Teilnehmenden hinaus – in diesem Jahr waren 14 Nationen vertreten, darunter Uruguay, Pakistan und Japan. Auch der berufliche Hintergrund ist bewusst vielfältig zusammengestellt, um wissenschaftliche Ansätze mit künstlerischen und aktivistischen Erfahrungen und Methoden zusammenzubringen.
Diese geografische und interdisziplinäre Vielfalt gehört zu den wichtigen Entwicklungen, die das Viadrinicum in seiner zehnjährigen Geschichte genommen hat. Stefan Henkel hatte vor der Premiere 2015 die Aufgabe, eine Ukraine-Sommerschule zu etablieren, im Zentrum standen unter anderem Ukrainisch-Sprachkurse. Nach und nach wurde der Blick geografisch auf die Länder der östlichen Partnerschaft und darüber hinaus erweitert. „Wir haben immer radikaler Wert daraufgelegt, nicht nur akademisch arbeitende Menschen zusammenzubringen, sondern verschiedene Arten der Wissensproduktion einzubeziehen“, umreißt Stefan Henkel eine weitere Entwicklung. Ein wichtiger Schritt war zudem der aus der Universität hinaus. Zunächst kooperierte die Sommerschule mit dem Brandenburgischen Landesmuseum für moderne Kunst (BLMK); seit drei Jahren gehört eine urbane Intervention auf dem Zukunftsplatz dazu. „Heute ist es schwer, die Sommerschule ohne die Intervention zu denken“, sagt Kirill Repin, der das Programm seit einigen Jahren gemeinsam mit Stefan Henkel organisiert.
Beide sehen sich weniger als Leiter des Programms, sondern vielmehr als Gerüstbauer. „Wir schaffen Unterstützung für lernende Personen und erwarten, dass sie sich selbst ihren Lernprozess gestalten“, erklärt Kirill Repin die von ihm gewählte Metapher. „Die Sommerschule erschöpft sich nicht in dem Programm“, ergänzt Stefan Henkel und zeigt auf den Stundenplan eng getakteter Workshops, Ausflüge und Arbeit in den verschiedenen Werkstätten. „Das Wichtigste ist nicht fixierbar“, sagt er. Der Kern des Programms, da sind sich die Gerüstbauer und die Teilnehmenden einig, sind die Freiräume, die für das gemeinsame Lernen entstehen. Dieses Ausbalancieren von Struktur und Freiheit sei nicht immer leicht, gibt Stefan Henkel zu. Dass es funktioniert bezeugen die Teilnehmenden, die begeistert von der Arbeit miteinander erzählen, von ihren Erkundungstouren durch die Doppelstadt und den neuen Lern-Erfahrungen.
So wie die Humangeografin Granaz Baloch, die ursprünglich aus Belutschistan – einer Region zwischen Pakistan und Iran – stammt und derzeit an der Universität Mainz forscht. Neben ihrer Beschäftigung, unter anderem mit der Darstellung weiblicher Rollenbilder in Frankfurter Skulpturen, nennt sie bei der Frage nach den interessantesten Eindrücken das Kochen füreinander. „Es fällt mir nicht so leicht, mit anderen Menschen aus mir fremden Ländern Kontakt aufzunehmen. Aber als ich für sie gekocht habe, kamen alle zu mir“, sagt sie. Ihre Überzeugung: Um miteinander und voneinander zu lernen, brauche es Emotionen. „Dafür war es sehr schlau, uns kochen zu lassen“, findet die Doktorandin.
Die Beziehungen zu den anderen Teilnehmenden sind auch für die NGO-Gründerin Yelizaveta Korenko aus Kyjiw das, was ihr am meisten im Gedächtnis bleiben wird. Noch nie zuvor habe sie jemanden aus Kosovo oder Bangladesch kennengelernt, der Austausch sei sehr wertvoll für sie. Darüber hinaus schätzt sie vor allem die Kombination von Theorie und Praxis. „Ich muss mich nicht entscheiden, sondern kann beides machen, es gibt keinen Druck. Egal wofür wir uns interessieren, wir bekommen Unterstützung“, sagt sie.
Um dieses Erlebnis zu ermöglichen, haben Stefan Henkel und Kirill Repin auch den Umgang mit Konflikten eingeplant und geübt. Mögliche Schwierigkeiten thematisieren sie frühzeitig und offen. Niemand werde beispielsweise allein wegen seines Passes vom Viadrinicum ausgeschlossen, erläutern sie einen Grundsatz, auch wenn das etwa im Fall von ukrainischen, belarussischen und russischen Staatsangehörigen schwierig sei. Doch auf den einfachen Weg scheinen die beiden Organisatoren auch gar keine Lust zu haben. Die Offenheit, die sie ihren Teilnehmenden im Programm bieten, muten sie sich selbst auch bei der Weiterentwicklung des Programms zu. Für die Zukunft haben sie sich vorgenommen, die Viadrinicum-Community noch planvoller zu pflegen, Słubice in die Sommerschule noch mehr miteinzubeziehen und weiterhin genau so viel Gerüst zu bauen, um einen motivierenden und anregenden Freiraum zu schaffen.
Frauke Adesiyan
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