Wie lässt sich Dringlichkeit in langanhaltenden Krisen konstruieren? – Studie am Beispiel der COVID-19-Pandemie
Trotz des zunehmenden Bewusstseins für groß angelegte Krisen ist das Verständnis, wie Organisationen Dringlichkeit während langanhaltenden Krisen konstruieren, nach wie vor begrenzt. Die Viadrina-Wirtschaftswissenschaftler*innen Dr. Lorenzo Skade, Elisa Lehrer, Dr. Yanis Hamdali und Prof. Dr. Jochen Koch untersuchen in ihrer jüngsten Studie, veröffentlicht im Journal of Management Studies, die Aktivitäten des Robert Koch-Instituts (RKI) während der COVID-19-Pandemie. Ihre Ergebnisse betonen die komplexe Natur von Dringlichkeit, ihre Konstruktion durch zeitliche Praktiken und tragen zu einem tieferen Verständnis des Krisenmanagements bei. Hier berichtet das Team von seinen Ergebnissen. Der Text ist im Original auf dem Management Studies Insights Blog erschienen.
Dringlichkeit im Krisenmanagement: Ein kritischer Aspekt
Wie wir aus der vorhandenen Literatur wissen, ist Dringlichkeit entscheidend für ein erfolgreiches Krisenmanagement. Organisationen müssen rechtzeitig reagieren, um (potenzielle) Schäden, die durch eine Krise entstehen können, zu mindern und zu verhindern. Traditionelle Krisenmanagementforschung befasst sich oft mit kurzlebigen Krisen, bei denen die Notwendigkeit einer dringenden Handlung oftmals offensichtlich ist. Langwierige Krisen wie die COVID-19-Pandemie stellen jedoch andere Herausforderungen an Organisationen. Solche Krisen erfordern einen anhaltenden Zustand von wahrgenommener Dringlichkeit bei den Stakeholdern über längere Zeiträume hinweg. Es ist daher unerlässlich zu verstehen, wie Organisationen Dringlichkeit effektiv über einen langen Zeitraum hinweg konstruieren und modulieren, um diese Art von Krisen (zum Beispiel die Klimakrise) zu bewältigen.
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Fallstudie: Das Robert Koch-Institut
Das RKI spielte eine Schlüsselrolle bei der Steuerung und Kommunikation der öffentlichen Gesundheitsmaßnahmen und der Vermittlung der Dringlichkeit der Pandemie in der deutschen Öffentlichkeit und bei politischen Entscheidungsträger*innen. Für unsere Analyse stützten wir uns auf 45 Stunden Videoaufzeichnungen der Pressekonferenzen des Instituts, 371 ihrer täglichen Lageberichte und mehr als 645 externe Dokumente, die größtenteils die mediale Berichterstattung über die Maßnahmen des RKI umfassen.
Dringlichkeit in langanhaltenden Krisen: Eine zeitliche Perspektive
Aus einer zeitlichen Perspektive heraus haben wir untersucht, wie das RKI temporale Hinweise der Krise in verschiedene Formen von Dringlichkeit übersetzt. Um dies zu veranschaulichen, entwickelten wir ein Prozessmodell und hoben drei Modi der Dringlichkeitskonstruktion und -modulation des RKI hervor:
1. Früher Modus: Erste Wahrnehmung
In den frühen Stadien der Pandemie erkannte das RKI die aufkommende Bedrohung durch das Virus. Die Organisation begann jedoch nicht sofort mit der Konstruktion von Dringlichkeit. Diese Phase war geprägt von der Übersetzung temporaler Hinweise, wie etwa der anfänglichen Infektionsraten, ohne drastische Maßnahmen zu ergreifen. So wurde in den anfänglichen Pressekonferenzen eher zu einer achtsamen Gelassenheit aufgerufen und das Risiko für die deutsche Bevölkerung als eher gering bis mäßig eingeschätzt.
2. Eskalationsmodus: Steigerung der Dringlichkeit
Das RKI wechselte in den Eskalationsmodus, als die Pandemie voranschritt. Temporale Hinweise wurden in materialisierte Zeitlichkeit übersetzt, wie zum Beispiel den Reproduktionswert (R-Wert) und die täglichen Fallzahlen. Diese dienten als Maßstäbe für das Verständnis und die Kommunikation der Schwere der Krise. Das RKI betonte die Notwendigkeit sofortiger Maßnahmen und forderte die Öffentlichkeit auf, die „Kurve“ durch Einhalten der strengen Maßnahmen abzuflachen („Flatten the Curve“).
3. Pausenmodus: Verringerung der Dringlichkeit
Interessanterweise verringerte das RKI die Dringlichkeit, als die Situation unter Kontrolle zu sein schien. In dieser Phase wurden temporale Hinweise verwendet, um Stabilität und Kontrolle zu signalisieren. Beispielsweise reduzierte das RKI während der Phasen mit niedrigen Fallzahlen die Häufigkeit ihrer Pressekonferenzen, forderte die Öffentlichkeit dennoch auf, weiterhin kooperativ zu bleiben.
Verschiedene Formen von Dringlichkeit
Wir identifizierten außerdem drei Formen von Dringlichkeit, die das RKI einsetzte:
Gelegenheitsfenster wurden genutzt, um schnelle Reaktionen von Öffentlichkeit und Regierung zu fördern, wenn sofortiges Handeln als notwendig erachtet wurde. Ein Beispiel ist die Betonung der Notwendigkeit anhaltender Wachsamkeit und bestimmte Maßnahmen „ab sofort“ umzusetzen.
Inzeptive Dringlichkeit wurde eingesetzt, um Bemühungen aufrechtzuerhalten, auch wenn unmittelbare Bedrohungen scheinbar eingedämmt waren.
Abgelaufene Dringlichkeit wurde verwendet, um verpasste Handlungschancen hervorzuheben. Sie diente als Mahnung an die Bevölkerung und betonte die Bedeutung rechtzeitiger Reaktion, falls erforderlich.
Implikationen für Krisenmanagement
Unsere Forschung hebt die Bedeutung eines dynamischen Ansatzes zur Bewältigung von Dringlichkeit in langanhaltenden Krisen hervor. Ein zentraler Punkt für Manager*innen und politische Entscheidungsträger*innen ist die Notwendigkeit, Eskalations- und Pausenphasen auszubalancieren, um Dringlichkeit während langwieriger Krisen effektiv zu managen. Dies erfordert, dass das Krisenmanagement regelmäßig Krisensignale bewertet und übersetzt, um Schlüsselindikatoren zu erstellen, alte Indikatoren anzupassen oder abzuschaffen und so dynamische Krisenreaktionen durch die Modulation von Dringlichkeit zu ermöglichen. Dieses Gleichgewicht fördert bessere Reaktionen auf die sich verändernden Anforderungen langanhaltender Krisen. Diese Erkenntnisse sind nicht nur für die Pandemiebekämpfung relevant, sondern auch für das Management langanhaltender Krisenthemen in- und außerhalb von Organisationen (zum Beispiel Klimawandel, Finanzkrisen, humanitäre Hilfe und Katastrophenhilfe).
Text von:
Dr. Lorenzo Skade, wissenschaftlicher Mitarbeiter (Postdoc) an der Europa-Universität Viadrina, forscht zu Theorien zu Zeit und Zeitlichkeit, strategischen Praktiken und prozessorientierten qualitativen Methoden.
Elisa Lehrer, Doktorandin an der Viadrina, untersucht strategische Kommunikation und Praktiken, multimodale Kommunikation und arbeitet methodisch mit qualitativen Videoanalysen.
Dr. Yanis Hamdali ist wissenschaftlicher Mitarbeiter (Postdoc) an der Viadrina. Er arbeitet zu Zeitlichkeit mit einem besonderen Fokus auf Innovation und Zukunftsgestaltung.
Prof. Dr. Jochen Koch ist Inhaber der Professur für Management und Organisation an der Europa-Universität Viadrina. Er untersucht strategische Praktiken und Heuristiken, strategische Kommunikation sowie organisatorische und unternehmerische Kreativität.
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