„Ein Gefängnis ist kein Ort, an dem man sich leicht öffnet“ – Veranstaltungsreihe der Kritischen Jurist*innen beleuchtet Leben und Arbeit im Gefängnis
Die studentische Initiative Kritische Jurist*innen hat im Oktober und November 2024 die Veranstaltungsreihe „Im System gefangen – ein kritischer Blick auf Leben und Arbeit im Gefängnis“ organisiert. Dabei ging es insbesondere darum, den Alltag von Inhaftierten sichtbarer zu machen und die Haftkonditionen zu verstehen, zu denen Studierende im Jurastudium sonst häufig wenig Zugang haben. Bei einem Podiumsgespräch, einem Besuch in der JVA Tegel und einem Vortrag setzten sich die Studierenden und Gäste kritisch mit den juristischen Bedingungen für Inhaftierte auseinander.
Bevor Dr. Frank Fechner ausführlich über seine Arbeit als Gefängnisseelsorger spricht, in welchen Dingen er helfen kann und wo die Grenzen seiner Arbeit liegen, liest er aus einem Protokoll vor, das das Gespräch mit einem Insassen festhält. Dabei wird schnell klar, dass die Sorgen, die die Gefangenen mit Frank Fechner teilen, existenziell sind und Abbild dessen, was ihnen durch die Gefängnisstrafe verwehrt bleibt. Das Gefängnis trenne die Gefangenen nicht nur von ihrer Freiheit, sondern häufig auch von ihrem alten Leben, so Fechner.
Die Veranstaltungsreihe „Im System gefangen – ein kritischer Blick auf Leben und Arbeit im Gefängnis“ der Kritischen Jurist*innen steigt am 28. Oktober ziemlich direkt in die existenzielle Materie ein. An diesem Abend beginnt die Reihe mit einer Podiumsdiskussion, zu der Prof. Dr. Christine Graebsch, Hochschullehrerin für Rechtliche Grundlagen der Sozialen Arbeit an der Fachhochschule Dortmund, und Dr. Frank Fechner, Landespfarrer für Gefängnisseelsorge in Berlin-Brandenburg und Vorstandsmitglied der Evangelischen Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland, eingeladen sind. Sie beide erzählen aus ihrer langjährigen Arbeit mit Inhaftierten und teilen ihre Erfahrungen.
„Ein Gefängnis ist kein Ort an dem man sich leicht öffnet“ - eine Veranstaltungsreihe der Kritischen Jurist*innen beleuchtet Leben und Arbeit im Gefängnis
Frank Fechner hat in der Regel ungefähr eine Dreiviertelstunde Zeit pro Besuch bei einem Gefangenen. Manchmal auch etwas mehr. Die Gefangenen sind belastet von Hoffnungslosigkeit und der ständigen Überwachung, emotional bewegen sie sich häufig zwischen Scham und Schuld. Dabei ist es auch Fechners Job als Seelsorger zu helfen, diese Gefühle zu spüren. „Ein Gefängnis ist kein Ort an dem man sich leicht öffnet“, so Fechner. Gleichzeitig betont er, wie wichtig es ist, eine Balance zwischen Nähe und Distanz zu wahren.
Viele fragen sich, so Fechner, wie sich ihr Leben gestalten kann, wenn sie wieder aus dem Gefängnis raus sind. Wie wird das mit meiner Familie? Finde ich wieder Zugang zu meinen Eltern? Was ist aus meinen Kindern geworden? Das sind nur einige Fragen, die sich den Gefangenen aufdrängen. Dahinter steht das Rätsel, wie es in einem Danach weitergehen soll. Es würden Perspektiven fehlen und tatsächliche Möglichkeiten der Re-Sozialisierung im Strafvollzug; beispielsweise, weil Gefängnisse zum Teil überbelegt sind, betont Fechner. Zudem kritisiert er die lange Dauer der Haft und Untersuchungshaft. Fechner plädiert für bessere alternative Strafen, insbesondere bei geringeren Vergehen, die den Gefangenen eine Aussicht auf einen zweiten Lebensabschnitt geben, für therapeutische Ansätze und die Abschaffung von lebenslangen Haftstrafen sowie mehr Präventionsarbeit.
Prävention, das sei ein ambivalenter Begriff, gibt Prof. Dr. Christine Graebsch zu bedenken. In ihrem Beitrag spricht sie über ihre Arbeit mit Gefangenen, die sie juristisch berät und vertritt. Prävention sei unter anderem deswegen problematisch, weil sie auf einer Art Prognose beruhe. Um das zu veranschaulichen, erinnert sie an den Film „Minority Report“, ein Science-Fiction-Thriller von Steven Spielberg aus dem Jahr 2002, basierend auf einem Roman von Philip K. Dick. Der Protagonist arbeitet für die Abteilung Precrime der Polizei. Durch Visionen werden Verbrechen der Zukunft vorausgesagt, auf deren Grundlage die potenziellen Verbrecher verhaftet werden, bevor je eine Tat begangen wurde. Und genau in dieser quasi spekulativen Annahme, ob eine Person eine Tat wahrscheinlicher begeht oder wiederholt, liege auch das Problem der tatsächlichen Prävention und der Auslegung des Strafmaßes. Dabei gebe es keine Möglichkeit, dies in der Sicherheitsverwahrung festzustellen.
Graebsch übt viel Kritik an dem derzeitigen System. Im Studium sei sie von der Abstraktion des Jurastudiums bedrückt gewesen. In Bremen kam sie dann als Studentin zu einer Rechtsberatung für Gefangene durch Studierende. Im Vorhinein dachte sie, dass sich Inhaftierte in Gefängnissen mit ihren Taten beschäftigen. Durch die Rechtsberatung kam sie zu dem Schluss, dass dies dafür überhaupt nicht der richtige Ort sei; primär, weil sich Gefangene ungerecht behandelt fühlen und das die Auseinandersetzung mit möglicher eigener Schuld erschwert. Oft fühlten sie sich auch mit gutem Grund ungerecht behandelt, wenn ihnen beispielsweise verwehrt wird, Elternteile zu sehen, bevor diese sterben.
Ein weiteres Beispiel, das Graebsch nennt, ist die sehr geringe Vergütung der Gefangenenarbeit. Davon müssen nicht nur Waren des täglichen Bedarfs im Gefängnis selbst gekauft werden, sondern oftmals auch Unterhalt für Angehörige, die Kosten der eigenen Verurteilung und Entschädigung für die Opfer bestritten werden. Da das aus diesem Lohn kaum möglich sei, kommen viele hoch verschuldet aus dem Gefängnis und haben wenig Perspektiven. Hinzu kommt, dass die Arbeit nicht in ein schlüssiges Resozialisierungskonzept eingebunden sei, so Graebsch.
Beschwerde einzulegen, das sei langwierig und nicht gerne gesehen. Nur bei Insassen, die sehr lange im Gefängnis sind, ergebe das Sinn, weil die Verfahren so lange dauern, dass es sich sonst schlicht nicht lohnen würde. Die Forschung bestätige ihren Eindruck, dass die Stellungnahmen der Anstalten das Leben der Gefangenen bestimmen. Im Strafvollzug stelle man fest, dass sich die Anstalten nur teilweise an bestimmte Vorgaben und Gesetze halten, so Graebsch. Dabei ist das Paradox, dass die Gefangenen dort sind, um zu lernen, sich an Gesetze zu halten. Warum die Anstalten nicht mit gutem Beispiel vorangingen, das beschäftige sie seit über dreißig Jahren, sagt Christine Graebsch.
Miriam Azinović hat sich ebenfalls ausführlich mit dem Thema Gefangenenvergütung auseinandergesetzt. Bei der Viadrina-Arbeitsrechtlerin Prof. Dr. Eva Kocher hat sie dazu promoviert. Ihre Forschung hat sie bei der Abschlussveranstaltung der Reihe vorgestellt und vertiefte das Thema Gefangenvergütung damit noch weiter. Der durchschnittliche Stundenlohn liegt je nach Bundesland und Tätigkeit zwischen 1,15 Euro und 2,69 Euro. Die Höhe ist abhängig von der Arbeit und dem Bundesland. Beiträge zu den Sozialversicherungen werden davon nicht geleistet. Zwischen Brutto und Netto liegt hier also kein Unterschied, auch wenn die Haftanstalt nicht immer den vollen Betrag auszahle, so Azinović. In der Realität kann man sich davon wenig leisten, resümiert sie. Das sei nur eins von vielen Problemen mit dem aktuellen Vergütungssystem.
In den meisten Bundesländern besteht eine Arbeitspflicht für Gefangene. Lediglich vier Bundesländer haben diese abgeschafft. Dass Gefangene überhaupt einem Arbeitszwang unterstehen können, regelt das Grundgesetz §12 Absatz 3. Denn eigentlich haben alle Deutschen das Recht den Arbeitsplatz frei zu wählen, außer eben bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung. Gerechtfertigt wird dieser Arbeitszwang mit dem Resozialisierungsgebot. Wie und in welcher Form die Gefangenen arbeiten, dafür gibt es mehrere Möglichkeiten, erklärt Azinović. In Eigenbetrieben werden für die JVA und andere Behörden Waren produziert und Dienstleistungen verrichtet, beispielsweise in internen Wäschereien, Bäckereien oder Handwerksbetrieben. Bei Unternehmerbetrieben siedeln sich Unternehmen direkt in der JVA an. In Deutschland seien das zum Beispiel Daimler, BMW und Miele, so Miriam Azinović. Für Unternehmen ist das vor allem wegen der niedrigen Löhne attraktiv, da Gefangene nicht als Arbeitnehmer gelten.
An der Berechnungsmethode der Löhne habe sich seit ihrer Einführung nichts verändert, auch wenn sie 2001 in überschaubarer Höhe gestiegen sind. „Die niedrige Vergütung stellt praktisch und rechtlich ein Riesenproblem dar“, betont Azinović. Durch die niedrige Entlohnung steige die Verschuldung häufig an; nach der Haft sind die Entlassenen häufig auf Sozialleistungen angewiesen, ein Rücklagenaufbau sei nicht möglich und das erhöhe auch das Risiko, in die Kriminalität zurück zu verfallen. Das Bundesverfassungsgericht urteilte im Juni 2023, dass die gesetzlichen Regelungen zur Vergütung von Gefangenenarbeit in Bayern und Nordrhein-Westfalen verfassungswidrig sind, unter anderem, weil es in sich nicht schlüssig und widerspruchsfrei mit dem Resozialisierungsgebot sei. Eine Neuregelung muss bis zum 30. Juni 2025 erfolgen. Ob das auch Auswirkungen auf andere Bundesländer haben wird, muss sich noch zeigen. Miriam Azinović hält das aber für wahrscheinlich.
An einer dritten Veranstaltung – einem Besuch in der JVA Tegel – durften nur Studierende teilnehmen. Generell ging es den Kritischen Jurist*innen darum, neue Perspektiven zu ermöglichen. „Mit unserer Veranstaltungsreihe wollten wir einen Raum öffnen, der Studierenden normalerweise verschlossen bleibt. Uns interessiert besonders die Perspektive der Menschen, die im Gefängnis leben und arbeiten – sowohl als Insass*innen als auch als Mitarbeiter*innen“, sagen die Kritischen Jurist*innen zur Motivation für die Veranstaltungen. Ihnen sei es wichtig, dass diese Stimmen nicht hinter verschlossenen Türen bleiben, sondern insbesondere auch in die Diskussion über das (Straf-)Recht einfließen und Gehör finden.
Lea Schüler
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