Frustabbau angesichts einer uninformierten Debatte – Bastian Matteo Scianna stellt neues Buch zur deutschen Russlandpolitik vor
Spätestens seit Beginn des russischen Angriffskrieges steht die deutsche Russlandpolitik massiv in der Kritik. In dem Buch „Sonderzug nach Moskau. Geschichte der deutschen Russlandpolitik seit 1990“ schaut sich PD Dr. Bastian Matteo Scianna diese genau an und räumt mit Missverständnissen und Verkürzungen auf. Am 28. November 2024 stellte er sein neues Buch auf Einladung von Viadrina-Historikerin Prof. Dr. Claudia Weber in der Stadt- und Regionalbibliothek Frankfurt (Oder) vor.
Dieses Buch zu schreiben, das hat Bastian Matteo Scianna der Historikerin Claudia Weber wohl im Vorgespräch verraten, sei vor allem eins gewesen: Frustabbau. Der Frust kam für ihn vor allem aus der Uninformiertheit der öffentlichen Debatte, erklärt Scianna direkt im Anschluss. Deswegen sei es ihm wichtig gewesen, sich dem als Historiker anzunähern: „Ich wollte das machen, was wir als Historiker eben machen: Wir gehen in Archive; wir versuchen zu rekonstruieren, wie es wirklich gelaufen ist. Anhand von Quellen und Dingen, nicht nur anhand von Erinnerungen, Meinungen oder Einschätzungen.“ Sein Ziel war es, mit diesem Buch einen Beitrag zur Versachlichung der Debatte zu leisten.
Lea Schüler
Claudia Weber erzählt in ihren einleitenden Worten, dass sie überrascht gewesen sei, dass dies gar nicht seine Habilitationsschrift ist, „weil es eben so schön umfangreich ist und so, wie man Habilitationsarbeiten eben schreibt“. Was genau sie damit meint, wird in den nächsten eineinhalb Stunden sehr deutlich. Scianna führt chronologisch und detailliert durch die jüngsten Dekaden deutscher Russlandpolitik unter Kohl, Schröder und Merkel (obwohl man bei letzterer unbedingt auch Steinmeier in die Betrachtung miteinbeziehen müsse, so Scianna). Der Historiker spricht über die Rolle der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit und Europa (KSZE), die idealisierte Wahrnehmung Gorbatschows (und eine regelrechte Gorbi-Mania), die Auswirkungen des Zwei-plus-Vier-Vertrages, die Tschetschenien-Kriege und die unterschiedlichen russischen Präsidenten, über die NATO-Osterweiterung, Nordstream, die Außenpolitik der Ukraine, die Rolle der USA und noch vieles mehr. Die Materialsammlung ist dicht, Sciannas Analysen sind es ebenfalls.
Für die Recherchen zu „Sonderzug nach Moskau. Geschichte der deutschen Russlandpolitik seit 1990“ hat er ein Jahr um Aktenfreigabe in Deutschland gekämpft und Einsicht in bisher ungesehenes Material erlangt. Es war ihm wichtig, die deutsche Russlandpolitik zu kontextualisieren, aber auch zu vergleichen, beispielsweise mit der britischen oder US-amerikanischen. Dafür hat er auch in Archiven in Großbritannien und den USA geforscht. Von den Ergebnissen sei er selbst manchmal überrascht gewesen, beispielsweise bei der deutschen Krisenpolitik 2014/15.
Primär geht es Scianna darum, politische Entscheidungen nachzuvollziehen: „Wir können politische Entscheidungen kritisieren, aber wir müssen sie verstehen.“ Er räumt außerdem mit bestimmten Narrativen auf. Einen häufig unterstellten Triumphalismus des Westens gegenüber Russland könne er zum Beispiel nicht erkennen. Bei einzelnen US-amerikanischen Akteuren ließe sich das vielleicht erkennen, aber nicht im Westen als solchem und schon gar nicht in Deutschland. Auch wenn die Einstellung zu Russland unter den einzelnen Regierungen unterschiedlich gewesen sein mag, was sie vereine, sei eine Utopie der Verflechtung, wie Scianna es nennt, also einen Willen, Russland immer wieder einzubinden: „Was in meinen Augen eben genau das Problem ist. Man hat sich nicht darauf vorbereitet, was passiert, wenn Russland sich nicht einbinden lassen möchte.“
Die Veranstaltung fand auf Einladung der Professur für Europäische Zeitgeschichte an der Europa-Universität Viadrina in Kooperation mit der Stadt- und Regionalbibliothek Frankfurt (Oder) statt.
Lea Schüler
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