„Das Konzept des Verantwortungseigentums ist ein Kind seiner krisenhaften Zeit“ – Interview mit Dr. Marvin Reiff
Der Jurist Dr. Marvin Reiff wurde für seine Dissertation mit dem zweiten Studienpreis der Körber-Stiftung in der Sektion Geistes- und Kulturwissenschaften und dem Dissertationspreis der Juristischen Fakultät der Universität Münster, dem Harry Westermann-Preis, ausgezeichnet. Seit Juni 2024 ist er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Jan-Erik Schirmer tätig. Im Interview spricht er über das Potenzial des Verantwortungseigentums, gesellschaftlichen Wandel und die Notwendigkeit unser Wirtschaftssystem zu hinterfragen.
Herr Reiff, für Ihre Dissertation „Verantwortungseigentum. Idee, Umsetzung und Kritik eines alternativen Eigentums an Unternehmen“ haben Sie zwei Preise erhalten. Ganz grundlegend: Was genau ist Verantwortungseigentum?
Grob gesagt habe ich mich mit einem rechtspolitischen Vorschlag beschäftigt, der unter dem Namen Verantwortungseigentum läuft. Dabei handelt es sich um ein neues, alternatives Privateigentum an Wirtschaftsunternehmen. Das haben sich Unternehmer*innen ausgedacht, die solches Eigentum anders denken wollten, als wir das üblicherweise machen. Der Kern des Verantwortungseigentums besteht darin, dass es entgegen der klassischen Vorstellung keine finanziellen Eigentümer mehr gibt. Das Unternehmen gehört sich sozusagen selbst. Das heißt, sämtliche Profite, die erwirtschaftet werden, gehören niemandem privat. Stattdessen bleiben diese Profite im Unternehmen und dienen weiter dem, was das Unternehmen eigentlich macht. Das ändert nicht nur die Rolle der Inhaberin, sondern auch die der Mitarbeitenden, weil sie nicht mehr für privaten Profit arbeiten, sondern sozusagen für die unternehmerische Mission. Man kann deshalb sagen, dass sich auch die Rolle des Profits ändert: Anders als in herkömmlichen Konzeptionen ist er nicht mehr das primäre Ziel der unternehmerischen Tätigkeit, sondern ein notwendiges Mittel, um am Markt zu bestehen. Für viele deutsche Mittelständler ist das seit Jahrzehnten gelebtes Selbstverständnis. Aber dieses Selbstverständnis kann derzeit nicht ohne Weiteres im Eigentum abgebildet werden.
Marvin Reiff bei der Verleihung des 2. Deutschen Studienpreises
Womit haben Sie sich in Ihrer Dissertation dann en détail beschäftigt?
Ich bin 2019 zufällig auf die Thematik gestoßen und habe gleich gemerkt, wie sehr sie mich interessiert. Dann habe ich mich drei, vier Jahre intensiv damit beschäftigt. Parallel dazu hat sich die rechtswissenschaftliche Debatte entwickelt, was für mich wirklich ein großes Glück war. Ein wichtiger Forschungsgegenstand war dann auch diese rechtswissenschaftliche Debatte selbst. Besonders detailliert habe ich mir zwei konkrete Gesetzesvorschläge angesehen. Ich habe versucht zu verstehen, warum sich die Diskussion entwickelt, wie sie sich entwickelt. Reden überhaupt immer alle von demselben, wenn sie das Gleiche sagen oder gibt es Verständigungsprobleme? Wie verständigungsorientiert wird diskutiert? Wo liegen die Knackpunkte und warum?
Wie haben Sie das umfangreiche Material geordnet?
Meine Arbeit ist in drei Teile gegliedert. Der erste beschäftigt sich mit dem, was schon da ist. Es gibt nämlich schon jetzt sehr viele Unternehmer*innen, die Verantwortungseigentum umsetzen wollen. Sie versuchen dann mithilfe von findigen Anwält*innen, das im geltenden Recht so passgenau wie möglich abzubilden. Das ist sehr interessant, aber stößt irgendwann an Grenzen – so erklärt sich der breit artikulierte Reformbedarf. Im zweiten Teil, meinem Hauptteil, beschäftige ich mich mit den schon erwähnten Gesetzesentwürfen, die aus der Wissenschaft stammen. Dazu habe ich einige konstruktive Änderungsvorschläge; an anderer Stelle verteidige ich die Entwürfe aber auch gegen scharfe Kritiken. Im dritten Teil habe ich dann versucht, sozusagen eine Ebene rauszuzoomen und über Eigentum an sich nachzudenken. Das hat mich vom Gesellschaftsrecht ins Verfassungsrecht geführt. In diesem Teil schaue ich mir an, inwieweit die Eigentumsgarantie des Grundgesetzes mit der Eigentumskonzeption des Verantwortungseigentums kompatibel ist.
Man kann also sagen, Ihr Thema hat, während Sie die Dissertation geschrieben haben, nochmal an Aktualität gewonnen?
Ja, genau. Also das ist eigentlich noch stark untertrieben (lacht). Am Anfang war ich mir wirklich nicht sicher, ob ich das überhaupt machen kann. Denn normalerweise muss der Forschungsgegenstand natürlich schon eine gewisse wissenschaftliche Relevanz haben. Die war zu Beginn noch nicht gegeben, es gab einfach noch zu wenig. Zum Glück hatte ich mit Prof. Petra Pohlmann eine fantastische Doktormutter, die mir großes Vertrauen geschenkt hat und mich ermutigt hat, einfach erstmal loszulegen. Das Timing war dann sehr glücklich. Tatsächlich sind sehr bald mehr und mehr Wissenschaftler*innen auf die prominenter werdende Thematik gestoßen und haben angefangen, darüber zu schreiben. Dadurch konnte ich die Entwicklung sehr genau verfolgen und war sozusagen immer vor oder jedenfalls auf der Welle. Das hatte natürlich auch sehr viel Arbeit zur Folge – und, dass am Ende etwas völlig anderes rausgekommen ist, als ich zunächst vorhatte. Aber vor allem hat es meine Forschung natürlich auch besonders spannend gemacht.
Neben den aktuellen Entwicklungen geht es in Ihrer Dissertation auch darum, welchen Strukturwandel das Verantwortungseigentum mit sich bringen oder befördern könnte. Auf welche Form von Strukturwandel beziehen Sie sich dabei und welches tatsächliche Potenzial hat das Verantwortungseigentum dafür?
Wenn man das Eigentum ändert, dann ändert sich die Struktur des kompletten Unternehmens. Das Eigentum ist quasi der Legostein ganz unten im Turm – und seine Logik ist in jeden anderen Stein gewissermaßen eingeschrieben. Wenn diese Logik anders aussieht, dann kann man auch ganz andere Dinge mit den Legosteinen bauen: Unternehmen, die andere Geschichten erzählen und die Komplexität des ,Wirtschaftens‘ in einer transformationsbedürftigen Gesellschaft annehmen. Wenn das viele Unternehmen machen, dann ändert sich auch die Beziehung dieser Unternehmen untereinander und damit auch ein Teil der Gesamtwirtschaft. Ich denke, dass man das nicht überschätzen sollte – aber eben auch nicht unterschätzen.
Woher kommt das Bedürfnis danach bzw. welches Problem würde das Verantwortungseigentum lösen?
In der rechtspolitischen Diskussion wird momentan vor allem die Nachfolgefrage betont: Wie werden Unternehmen weitergegeben? Heute werden Unternehmen in aller Regel vererbt oder verkauft. Das Problem ist, dass man häufig niemanden findet, der bereit und in der Lage ist, den hohen Preis zu bezahlen. Lange war das kein großes Problem, weil viele Unternehmen innerhalb von Familien weitergegeben wurden. Das ist aber ein fragwürdiges und jedenfalls von den gesellschaftlichen Realitäten zunehmend überholtes Modell: Derzeit suchen etwa 200.000 mittelständische Unternehmen akut Nachfolger*innen für die scheidenden Eigentümer*innen; die Mehrzahl der Stilllegungen geht dabei auf das Fehlen innerfamiliärer Optionen zurück.
Viele Unternehmer*innen sagen: Ich hätte eigentlich jemanden, der ich das Unternehmen gerne übergeben würde – häufig der Geschäftsführerin – aber sie hat das Geld einfach nicht. Außerdem würde sie den Kaufpreis aus dem laufenden Unternehmen refinanzieren müssen, was dann doch wieder auf die primäre Zielsetzung privater Profite hinausliefe. Man will das Unternehmen also eigentlich gerne verschenken, aber man möchte das mit der Gewissheit tun, dass auch in Zukunft niemand den Unternehmenswert privat „einsackt“, auf den man selbst verzichtet.
Gleichzeitig möchte man die unternehmerische Freiheit aber völlig unangetastet lassen. Es soll eigentlich nur eine Sache geben, die nicht gehen soll, und zwar aus dem Unternehmensvermögen Privatvermögen zu machen. Also ganz platt gesagt: Ich stecke mir das Geld in die eigene Tasche und dann kaufe ich mir davon eine Yacht. Alles andere soll gehen. Man soll sogar das Unternehmen veräußern dürfen. Der Veräußerungsgewinn läge dann aber in der Unternehmensgesellschaft und bliebe sozusagen an das Eigentum gebunden; damit könnte man zum Beispiel ein neues Unternehmen gründen. Es bleibt also ein marktwirtschaftliches Konzept.
Es ist sehr schwierig, das im geltenden Recht zu machen. Ein sozusagen treuhänderisches Verantwortungseigentum, das dann eben kein Vermögenseigentum mehr wäre, würde diese Nachfolgesituation enorm erleichtern – und damit dazu beitragen, selbstständige mittelständische Unternehmen als solche zu erhalten.
Welche Kritik gibt es an der Idee des Verantwortungseigentums?
Oft wird kritisiert, dass das keine Marktwirtschaft mehr sei oder dass die Verantwortungseigentümer*innen in Wahrheit machtlose Geschäftsführer*innen seien. Das Gegenteil ist der Fall, würde ich behaupten. Sie können nämlich viel mehr machen, als eine ,normale‘ Geschäftsführerin, weil es keine Kapitaleigentümerin gibt, die sagt: Ach, dies und das jetzt bitte nicht, weil da leidet die Rendite.
Häufig wird auch behauptet, dass das Ganze gar nicht klappen könne, weil die Verantwortungseigentümer*innen nicht motiviert seien, Höchstleistung zu bringen – schließlich würden sie von dem Gewinn nicht persönlich profitieren. Auf einer Konferenz hat ein Unternehmer, der sich für das Verantwortungseigentum einsetzt, darauf einmal geantwortet: Ich habe 300 Mitarbeiter; die haben alle nicht diesen Anreiz des maximalen Privatgewinns – und die stehen trotzdem jeden Tag auf und machen eine Top-Arbeit. Dazu gibt es natürlich noch einiges mehr zu sagen, aber ich finde, das ist eine schöne erste Antwort.
Die Diskussion um das Verantwortungseigentum war von Beginn an sehr polarisiert. Es gibt viele Leute, die dem Projekt vorwerfen, dass nur so getan werde, als sei es ein Vorschlag für mehr Nachhaltigkeit. In Wahrheit könne ein Unternehmen in Verantwortungseigentum auch Waffen oder Tabak herstellen. Und das ist auch völlig richtig. Ich würde dem aber entgegenhalten, dass es einen Unterschied macht, in welcher Struktur die Entscheidung, A oder B herzustellen, gefällt wird. Da geht es um völlig verschiedene Anreizsysteme und ganz unterschiedliche Freiheitsgrade, die die beteiligten Menschen haben. Und Unternehmen in einer bestimmten Rechtsform vorzuschreiben, welche konkreten Dinge (nur) sie nicht produzieren oder anbieten dürfen: Das wäre in der Tat wenig kompatibel mit den Grundgedanken der Marktwirtschaft.
Wenn sich das Eigentum grundlegend ändert, gäbe es dann auch ein Potenzial für einen größeren gesellschaftlichen Wandel oder ist es eher eine kleine Ergänzung zum bestehenden System?
Das ist eine schwierige Frage. Ich denke, es bewegt sich irgendwo zwischen diesen Optionen; diese Geschichte muss erst noch gemacht werden. Grundsätzlich bin ich aber durchaus optimistisch. Ich halte es auch für wichtig, deutlich zu machen, dass ich persönlich – sozusagen als Bürger – von dem Konzept überzeugt bin. Das ist aber keine rechtswissenschaftliche Frage, sondern das hat mit ökonomischen und politischen Überzeugungen zu tun.
Gerade weil ich dem Verantwortungseigentum einiges zutraue, halte ich es aber auch für wichtig, sich die Grenzen klar zu machen. Es geht vor allem um eine freiwillige Ergänzung. Das heißt: Alles, was da ist, bleibt bestehen. Wie groß der realwirtschaftliche Einfluss in den ersten Jahren nach Einführung einer neuen Rechtsform wäre, bleibt unklar, auch wenn die Liste der Unterstützer*innen immer länger wird. Was ich aber mindestens genauso wichtig finde, ist die Tatsache, dass da etwas in Bewegung gerät. Dinge, die wir für selbstverständlich halten, für gar nicht hinterfragbar, werden plötzlich einfach anders gemacht.
Ein alternatives Privateigentum wirft natürlich viele weitere Fragen auf. Was heißt das zum Beispiel für die Nachhaltigkeit, das Arbeitsrecht oder die Mitbestimmung? Da werden Aushandlungsprozesse angestoßen, die sehr demokratisch sind und der Gesellschaft extrem guttun könnten. Man darf nicht unterschätzen, wie wichtig Unternehmen sind. Die meisten Menschen verbringen einen großen Teil ihres Lebens dort. Wie Unternehmen gestaltet sind und ob sie dort selbstwirksam sein können, ist für das Selbstbild und Glück arbeitender Menschen sehr relevant.
Haben Sie denn eine Erklärung dafür, warum diese Diskussion in den vergangenen fünf Jahren so viel präsenter geworden ist?
In meinem Buch steht am Ende, dass dieses Konzept auch ein Kind seiner krisenhaften Zeit ist. Einerseits ist es eine geradezu minimalinvasive Idee, weil sie auf Freiwilligkeit basiert und aus der Unternehmer*innenschaft selbst kommt. Andererseits hat sie aber auch das angedeutete, umstürzende Potenzial. Wir haben ein sehr fundamentales Problem mit unserer Wirtschaftsweise, die schlicht nicht nachhaltig, sondern zerstörerisch und gefährlich ist. Auf die zentrale Frage, wie eine Ökonomie aussehen könnte, die das nicht ist und die trotzdem die Bedürfnisse aller Menschen befriedigt, um dem Versprechen einer Gesellschaft von Freien und Gleichen gerecht zu werden, haben wir nach wie vor keine Antwort gefunden. Natürlich ist die Frage, welche Struktur bestimmte deutsche Unternehmen haben oder haben sollten, dabei nur ein winziges Puzzleteil. Aber ich glaube, dass es in die richtige Richtung geht, diese Frage zu stellen.
Sie sind seit Juni akademischer Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Jan-Erik Schirmer. Vertiefen Sie dieses Thema dort weiter oder widmen Sie sich jetzt ganz anderen Komplexen?
Für mich war immer klar, dass das Thema mit der Abgabe der Dissertation für mich nicht vorbei ist. Das ist natürlich auch dadurch bedingt, dass es ein so lebendiges Thema ist. Ich werde also weiter am Ball bleiben und mich einbringen, wenn ich das Gefühl habe, etwas Sinnvolles beitragen zu können. Aber ich bin natürlich auch deshalb zu Prof. Schirmer gegangen, weil er an anderen Dingen arbeitet, die mich ebenfalls sehr interessieren – und weil ich es super finde, wie er das macht. Besonders begeistert hat mich seine Habilitation, die erst gegen Ende meiner Forschung erschienen ist – das war wirklich das Buch, auf das ich gewartet hatte. Nicht, weil ich alle Antworten teile, aber die Fragen. Deswegen war schnell klar, dass das sehr gut passen würde. Perspektivisch möchte ich mit Prof. Schirmer und unserem Team gerne intensiver darüber nachdenken, welche Rolle dem Privatrecht in einer Gesellschaft zukommt, die ihre Ökonomie transformieren will. Aber jetzt steht leider erst einmal das zweite Staatsexamen an (lacht).
Sie haben in Münster studiert und Ihre Dissertation geschrieben. Ihr Studium hat sie unter anderem nach Santiago de Chile und Paris geführt – was hat Sie nun an die Viadrina verschlagen?
Ehrlich gesagt: Den Ausschlag hat Prof. Schirmers großartiges, aber auch ziemlich überraschendes Angebot gegeben. Am Anfang habe ich gezögert, ob ich mir nicht zu viel vornehme, weil ich gerade noch im Referendariat bin. Aber dann bin ich nach Frankfurt gefahren, habe mir die Uni angesehen und dachte: Man muss die Feste feiern, wie sie fallen – ich kann das gar nicht nicht machen. Ich kann also nicht behaupten, dass es eine sehr fundierte Entscheidung war (lacht). Aber ich hatte mich auch ein bisschen umgehört und den Eindruck, dass die Viadrina eine sehr sympathische Uni ist, die extrem spannende Leute anzieht und großartige Möglichkeiten bietet. Deshalb freue ich mich wirklich sehr, hier zu sein!
Interview: Lea Schüler
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