DFG-gefördertes Projekt „War Sensing“ untersucht, wie digitale Medien- und Datenpraktiken Kriegsdarstellungen prägen
In einer sich rasant verändernden Medienlandschaft mit immer mehr Möglichkeiten, Informationen zu erhalten und zu verbreiten, ändert sich auch die Wahrnehmung und Darstellung von Krieg und der Diskurs darüber. Prof. Dr. Miglė Bareikytė und Johanna Hiebl untersuchen in dem Projekt „War Sensing“, wie genau digitale Medien- und Datenpraktiken im Kontext des russischen Krieges gegen die Ukraine funktionieren, welche Akteure dabei eine Rolle spielen und wie sie die Kriegsdarstellungen prägen.
Satellitenbilder von zerstörten Wohnvierteln, verwackelte Videos, die den Abschuss von Raketen über ukrainischen Städten zeigen, private Chats aus dem Luftschutzkeller in Kyjiw. Der Krieg in der Ukraine ist seit Februar 2022 ständig auf zahlreichen Kanälen sichtbar – Absender sind neben klassischen Medien und offiziellen Stellen zahlreiche Zivilpersonen. Im Projekt „War Sensing“, das im Rahmen des Sonderforschungsbereiches „Medien der Kooperation“ von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wird, untersuchen Miglė Bareikytė und Johanna Hiebl die Auswirkungen dieser Veränderung. Es geht ihnen um eine praktische Dimension von Medientechnologien: „Sensing bezeichnet hier die Kooperation von Menschen und zeitgenössischen Medientechnologien. Sensoren, Satelliten, Soziale Netzwerke – diese digitalen Technologien beeinflussen, was wir über den Krieg erfahren und wie wir ihn wahrnehmen“, erklärt Projektinitiatorin und -leiterin Miglė Bareikytė den Ansatz.
In einem ersten Schritt hat sie mit Johanna Hiebl, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt, investigative Praktiken von verschiedenen Akteur*innen und Institutionen in den baltischen Staaten untersucht. In Estland, Litauen und Lettland haben sie unter anderem Journalist*innen und Aktivist*innen von öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, investigativen Nicht-Regierungsorganisationen und Internetplattformen interviewt, die frei verfügbare Daten über russische Propaganda und Destabilisierungsmaßnahmen und den aktuellen Krieg sammeln, analysieren und veröffentlichen. „Wir beobachten dort einen ,investigative turn‘, an dem verschiedene Akteur*innen beteiligt sind, darunter Journalist*innen, aber auch Aktivist*innen und Think Tanks, die zunehmend nicht nur die digitale Dimension eines hybriden Krieges in den baltischen Staaten analysieren, sondern auch seine weiteren Auswirkungen, wie die Umgehung von Sanktionen. Dies deutet auf die Entstehung einer wachsenden und kritischen Medienöffentlichkeit in den baltischen Staaten hin“, beschreibt Miglė Bareikytė ihre Beobachtungen.
Heide Fest
Die Landschaft und die Arbeitspraktiken von Akteur*innen zu verstehen, die der russischen Desinformation entgegensteuern, sei eines der Ziele des Projektes, so Johanna Hiebl. Neben der geografischen und geopolitischen Verortung sind die baltischen Staaten auch wegen des russischsprachigen Bevölkerungsanteils für die Forscherinnen interessant. „Schon seit der Annexion der Krim sind diese Länder verstärkt das Ziel von staatlich gelenkter, russischer Informationspolitik“, sagt Johanna Hiebl. Hinzu komme, dass eine Vielzahl kritischer Journalist*innen aus Russland in die baltischen Staaten migriert sind.
Während das erste Jahr des Projektes die Wissenschaftlerinnen vor allem ins Baltikum führte, steht in einem zweiten Schritt eine stärkere Auseinandersetzung mit ukrainischen Akteur*innen bevor. In Kooperation mit Kolleg*innen vom Center for Urban History of East Central Europe in Lwiw werden Fotos, Videos und Nachrichten von ukrainischen Nutzerinnen und Nutzern öffentlich zugänglicher Kanäle des Messengerdienstes Telegram untersucht. Auch die Praxis der digitalen Archivierung ist hier Forschungsgegenstand. An den Texten, Bildern und Sprachnachrichten, die in dem Center in Lwiw archiviert werden, interessiert das Forscherinnen-Team: Wie besprechen die Nutzer*innen den Krieg und ihren Alltag in den Chats; welche Informationen geben sie weiter und können diese zur Aufklärung von Kriegsverbrechen genutzt werden? Nicht zuletzt geht es auch um die forschungsethische Frage: Wem gehören all diese Daten überhaupt und wer darf sie wie nutzen? Dass der Fokus nun vom Baltikum in die Ukraine gerückt wird, lässt eine Herausforderung deutlicher werden, die dem War Sensing-Team schon seit Beginn des Projektes zu schaffen macht: Sie dürfen offiziell nicht dienstlich in die Ukraine reisen. Die Frage, wie sie glaubhaft über so komplexe gesellschaftliche Entwicklungen schreiben sollen, ohne Teil oder zumindest Vor-Ort-Beobachterinnen zu sein, bewegt die Forscherinnen.
Im Rahmen ihrer Mitarbeit im Projekt untersucht Johanna Hiebl für ihr Dissertationsprojekt, wie zivile Open-source-Datenpraktiken im Kontext des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine traditionelle militärische und journalistische Rahmenbedingungen herausfordern und welche sozialen Dynamiken durch die Beteiligung von Amateurakteur*innen entstehen.
Der andauernde Krieg, die Reise-Einschränkungen, die ständig wachsende Menge an Daten – das Forschungsfeld der beiden Viadrina-Wissenschaftlerinnen ist herausfordernd. „Der Krieg ist leider real und er verändert die mittel- und osteuropäischen Gesellschaften und Europa insgesamt; das ist nun mal kompliziert“, kommentiert Miglė Bareikytė diese Situation. Durch die DFG-Förderung haben sie allerdings auch das Privileg und die Mittel, um Grundlagenforschung zu betreiben. Für Johanna Hiebl ist die Aktualität und Dynamik in ihrer Promotions- und Forschungsarbeit motivierend: „Es fühlt sich überhaupt nicht nach Wissenschaft im Elfenbeinturm an. Das Feld ist wenig besetzt und die Forschung umso wichtiger.“ Das sagt sie voller Überzeugung auch mit Blick auf Deutschland, das sie im Bereich Desinformation und hybrider Kriegsführung für äußerst schlecht aufgestellt hält. Hier mit dezidiertem Wissen zu einer Verbesserung beizutragen, ist über das Promotionsvorhaben hinaus ihre Hoffnung.
Zu den Personen
Miglė Bareikytė ist seit 2023 Professorin für Digital Studies an der European New School of Digital Studies (ENS) der Europa-Universität Viadrina. Zuvor forschte sie an der Universität Siegen unter anderem zu digitalen Dimensionen des Krieges, Digitale Medien, Konflikt und Desinformation und Digitalisierung in Europa. Sie leitet das Projekt „War Sensing“, das von der DFG im Rahmen des Sonderforschungsbereiches „Medien der Kooperation“ (SFB 1187) an der Universität Siegen gefördert wird.
Miglė Bareikytė studierte Communication and Information Studies/Verlagswesen (B.A.) in Vilnius, Social and Political Critical Studies (M.A.) in Kaunas sowie Medien- und Kommunikationswissenschaften (M.A.) in Berlin. 2020 wurde sie am Graduiertenkolleg „Kulturen der Kritik“ der Leuphana Universität Lüneburg mit einer Dissertation über das postsozialistische Internet in Litauen promoviert.
Johanna Hiebl ist Doktorandin an der ENS und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „War Sensing“. Sie hat einen Bachelor in Slawistik und Germanistik an der Universität Heidelberg und einen deutsch-polnischen Master in Multikultureller Kommunikation an der Europa-Universität Viadrina und der Adam-Mickiewicz-Universität Poznań absolviert.
Seit 2018 ist sie aktiv an Projekten an der Schnittstelle von Wissenschaft und Zivilgesellschaft an der Viadrina beteiligt, darunter Initiativen wie Ukraine Calling. Nach der russischen Invasion im Jahr 2022 koordinierte sie digitale Unterstützungsprojekte an ukrainischen Universitäten, die Forschung und Lehre unter Beschuss fortsetzten.
Frauke Adesiyan
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