Serien als Populismus-Labor – MORES-Projekt erforscht moralische Gefühle in der Politik
Wie können moralische Emotionen in der Politik spalten und vereinen? Darum geht es in dem Verbundprojekt „Moral Emotions in Politics – How They Unite, How They Divide“ (MORES). Als ein erstes Ergebnis hat der Filmwissenschaftler Dr. Thomas Scherer, der das Projekt an der Viadrina koordiniert, jetzt einen Artikel über europäische Fernsehserien veröffentlicht, die populistische Antworten auf die Krise politischer Repräsentation geben. Im Interview spricht er darüber, was die Serienheld*innen der realen Politik voraushaben, wie Wut politische Karrieren befeuert und warum Populismus der Demokratie gut tun könnte.
Herr Scherer, Sie haben sich für Ihren Artikel mit „Diener des Volkes“, „Der Wahlkämpfer“ und „The Amazing Mrs Pritchard“ drei Serien angeschaut, in denen eine Supermarkt-Managerin, ein Sozialarbeiter und ein Geschichtslehrer unverhofft steile politische Karrieren hinlegen – bis zur Präsidentschaft. Was interessiert Sie wissenschaftlich an diesen Serien und ihren Charakteren?
Die Studie ist ausgerichtet auf das Verhältnis von Politik und Serien. Wir haben uns gefragt, wo werden in der populären Serienkultur positive Lösungsansätze imaginiert? Wo gibt es einen versteckten Utopismus? Die ausgewählten Serien reagieren auf die Krise der Demokratie indem sie diese unwahrscheinlichen Kandidat*innen imaginieren. Wir betrachten die Serienfiguren nicht so, als wären sie reale Politiker*innen; es geht uns um die Politik der audiovisuellen Bilder. Wir beschreiben die Serien als fiktionale Welten, die uns Wahrnehmungsweisen auf die Welt ermöglichen, in der wir leben. Wir haben versucht herauszufinden, was die Serien über unsere demokratische Gemeinschaft aussagen können, indem sie sich solche Interventionen in politische Ordnungen vorstellen. Es geht darum, ob Fernsehserien als Laboratorien für Populismen gelesen werden können und wie sie beim Nachdenken darüber helfen, ob solche politischen Strömungen Demokratien stärken oder wiederbeleben können, indem sie sie für andere Menschengruppen zugänglich machen.
In allen drei Fällen beschreiben Sie Wutausbrüche als Ausgangspunkt der politischen Karrieren. Braucht es Wut in der Politik?
Diese Wutausbrüche sind für die Politiker*innen in den Serien kein Merkmal, das ihren Politikstil prägt. Die Wut markiert vielmehr den Moment, in dem sie von der Bürgerin oder dem Bürger zur Politikerin oder zum Politiker werden. Den Rest ihrer Amtszeit sind sie damit beschäftigt, diese Wut einzuhegen und andere Gefühle zu wecken, mit denen sie sich an die Gemeinschaft wenden können. Das ist ein interessanter Unterschied zu populistischen Parteien wie der AfD, die auf eine Dauerwut setzen. In den Serien ist die Wut ein kurzer Moment der Sichtbarmachung und der Transformation für Gruppen, die normalerweise keine politische Stimme haben oder das zumindest so empfinden. Das finde ich spannend an diesen Serien.
Ist diese von ihnen beobachtete Wut eine der moralischen Emotionen, die sie in dem größeren Forschungsprojekt MORES erforschen?
Ja, das ist eine ziemlich prototypische, moralische Emotion. Der Begriff der moralischen Emotion wurde von dem amerikanischen Sozialpsychologen Jonathan Haidt geprägt. Er geht davon aus, dass uns manche Gefühle nicht primär als Individuen betreffen, sondern als Gemeinschaft. Etwas vereinfacht gesagt sind Gefühle moralisch, wenn sie mit dem Wohlergehen einer Gemeinschaft zu tun haben. Wichtig ist dabei: Moralisch heißt nicht, dass wir diese Gefühle als gut oder schlecht beurteilen; es kann in beide Richtungen gehen. Die Wut beispielsweise kann pro- oder antisoziale Auswirkungen haben.
Sie beschreiben in Ihrem Beitrag einen populistischen Ansatz der Serien. Wie verstehen Sie in diesem Fall Populismus?
Wir verwenden einen rein beschreibenden Populismus-Begriff, der ohne Bewertungen auskommt. Diese Form von Populismus sieht die Gesellschaft als zweigeteiltes Konstrukt an, auf der einen Seite das Volk als Träger der Souveränität und auf der anderen Seite die negativ konnotierte Elite, die die Herrschaft des Volkes begrenzt. Der Populismus sieht dort einen ganz starken Antagonismus.
Gemeinhin wird das Wort Populismus aber oft anders verwendet.
Ja, im deutschen Diskurs ist „populistisch“ häufig ein Kampfbegriff; das ist man nie selbst, das sind immer die anderen. Das ist aber im internationalen Vergleich ganz unterschiedlich. Es gibt beispielsweise ein Interview mit Barack Obama, in dem er darauf besteht, dass er der Populist sei und nicht Donald Trump, weil der nur ein Krawallmacher ist, der sich nicht für die Interessen des Volkes einsetzt. Ein positiver Aspekt von Populismus wäre, dass dadurch marginalisierte Gruppen und solche, die sich von der Politik abgewandt haben, zurück in die Politik gebracht werden und so die Legitimation von demokratischen Regierungen erhöht wird.
Gilt das neben den Hauptcharakteren aus den analysierten Serien auch für reale Politiker, die für ganz andere Dinge berühmt waren, bevor sie Politiker wurden, wie Donald Trump oder auch Wolodymyr Selenskyj?
Wenn man es positiv betrachtet, könnte man schauen, ob solche Persönlichkeiten in der Lage sind, Nichtwähler*innen anders anzusprechen und an die Wahlurne zu bringen. Aus pessimistischer Sicht muss man aber auch über die Entertainisierung der Tagespolitik nachdenken und über den Wettbewerb um Aufmerksamkeit. Es kann einen der Verdacht beschleichen, dass, wer unterhaltsamer ist, auch mehr Aufmerksamkeit von den Medien bekommt. In den Serien werden die Politiker*innen übrigens gar nicht so sehr durch eine rosa Brille gesehen. Nachdem sie ins Amt gespült werden, merken sie, dass sie keine wirklich dreidimensionale politische Agenda haben, sondern ein oder zwei Steckenpferd-Themen. Dann geht es um das Problem, die richtigen Mitstreiter*innen zu finden.
Können Sie die Erkenntnisse aus Ihrer Forschung auch auf den aktuell laufenden Bundestagswahlkampf anwenden?
Ja, vor allem die Frage nach den verschiedenen Populismen. Ich habe gerade einen Vortrag von dem Journalisten Stephan Hebel gehört, der meinte, wir müssen die Vernunft vor dem gesunden Menschenverstand retten. Es ging ihm um die Beobachtung, dass bestimmte Emotionen und Reflexe, die als private Reaktionen sehr legitim sind, in politische Parolen verwandelt werden. Als Beispiel ging es um die Reaktionen auf die Mordanschläge von Magdeburg oder Aschaffenburg. Mit den Serien im Hinterkopf bin ich dafür sensibler geworden: Wo genau werden moralische Reflexe und Emotionen, die erstmal dem gesunden Menschenverstand entsprechen, überführt in eine Systematisierung und in die Politik? Wie ich beschrieben hatte, machen die Serienhelden da einen Schritt zurück von der eigenen Wut. Diesen Schritt habe ich mitunter im Bundestagswahlkampf vermisst.
Wie geht es mit Ihrer Forschung zu Emotionen in der Politik nun weiter?
Die Forschung zu den Serien ist abgeschlossen; in einigen Wochen erscheint dazu ein Arbeitspapier, in dem die kondensierten Ergebnisse aus dem Blog-Post ausführlicher beschrieben werden.
Als nächsten Schritt werden wir uns im MORES-Projekt sehr intensiv mit Emotions-Strategien von Nachrichtenberichterstattung beschäftigen. Das tun wir länder- und sendungsvergleichend in Deutschland, Frankreich, Polen und Ungarn. Wir betrachten stichprobenartig private und öffentlich-rechtlich Inhalte aus den Jahren 2014, 2019 und 2024, um zu sehen: Gibt es Tendenzen der Emotionalisierung? Werden die Nachrichten tendenziell emotionaler? Wenn ja, bei welchen Themen und mit welchen Emotionen? Diese Frage wollen wir einerseits durch eine Analyse der Nachrichtensendungen beantworten und andererseits durch Interviews mit Journalist*innen, die dafür verantwortlich sind, welche Nachrichten wie ausgestrahlt werden.
MORES – ist ein Forschungsprojekt, das sich mit den Herausforderungen der liberalen Demokratie befasst – insbesondere mit der Rolle moralischer Emotionen, Werte und Identitäten in der Politik. Ziel des Projektes ist es, sowohl der Entfremdung der Bürger von der Politik als auch der Überemotionalisierung politischer Debatten entgegenzuwirken, da beide Phänomene eine Gefahr für demokratische Prinzipien darstellen. MORES wird im Rahmen des Horizon Europe-Programms gefördert und ist eine Kooperation von neun europäischen Institutionen. Zur Projektseite
Das Teilprojekt an der Europa-Universität Viadrina untersucht unter der Leitung von Prof. Dr. Timm Beichelt und Prof. Dr. Daniel Illger an der Schnittstelle von Politik- und Filmwissenschaft insbesondere die Rolle populärer, audiovisueller Medien im Zusammenhang von Emotionen und Politik. Das Projekt läuft bis Ende 2026.
Frauke Adesiyan
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