„Wir lernen etwas über Europa durch die Ukraine“ – Viadrina-Expertise beim Café Kyiv 2025
Zahlreiche Ukraine-Expert*innen vom Viadrina Center of Polish and Ukrainian Studies (VCPU) und dem Kompetenzverbund Interdisziplinäre Ukrainestudien (KIU) der Viadrina waren bei den Gesprächsrunden im Café Kyiv am 11. März 2025 in Berlin vertreten. Sie sprachen auf Panels unter anderem über die Rolle der Wissenschaft beim Wiederaufbau der Ukraine, diskutierten mit Kolleg*innen und tauschten sich mit anderen Akteur*innen aus Politik, Wissenschaft und Kultur aus, die ebenfalls in der und über die Ukraine arbeiten.
Bei der dritten Auflage des europaweit größten Netzwerktreffens der ukrainischen Community, dem Café Kyiv, waren sowohl der KIU – Kompetenzverbund Interdisziplinäre Ukraine-Studien Frankfurt (Oder)-Berlin als auch das Viadrina Center of Polish and Ukrainian Studies (VCPU) vertreten. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beider Einrichtungen stellten ihre Arbeit an Infoständen vor. Zudem diskutierten Viadrina-Forschende bei zahlreiche Gesprächsrunden mit.
Viadrina-Expertise beim Café Kyiv
Beitrag der Wissenschaft auf dem Weg von „Desinteresse zur strategischen Partnerschaft“
Das Gespräch „Von Desinteresse zur strategischen Partnerschaft?“ thematisierte das sich wandelnde Verhältnis Deutschlands zur Ukraine. Ljudmyla Melnyk (Leiterin des Ukraine-Programms, Institut für Europäische Politik) konstatierte, dass es offenbar eines „gewissen Schocks bedurfte, um den Beziehungen zwischen Deutschland und der Ukraine einen neuen Impuls zu geben“. Wo es bis 2014 kaum Programme gab, die sich dem deutsch-ukrainischem Verhältnis widmeten, löste die Annexion der Krim durch Russland und der Krieg in der Ostukraine eine neue inhaltliche Zuwendung Deutschlands zur Ukraine aus.
Den Eklat beim Besuch von Wolodymyr Selenskyj im Weißen Haus im Februar bezeichnete KIU-Koordinatorin Susann Worschech als weitere Zäsur. In den USA, einem Land mit einer vergleichsweise langen Ukraine-Forschung, brauche es nach dem „Trump-Moment“ auch eine „starke Zivilgesellschaft, die klare Bilder sieht“. In Deutschland hingegen war die Ukraine-Forschung lange Zeit kaum gefördert worden: Seit 1991 wurden lediglich zwei bis fünf Ukraine-Projekte pro Jahr von der DFG finanziert; bis heute existieren lediglich zwei Ukraine-Professuren, eine davon die mit Prof. Dr. Andrii Portnov besetzte Professur an der Viadrina.
Rebecca Harms (Grüne) forderte in der Runde einen Wandel in der Einstellung der Deutschen und Europäer*innen gegenüber der Ukraine. Es sei nötig „von Unterstützern zu wirklichen Alliierten“ zu werden. Denn, und so sind sich alle Teilnehmenden der Runde einig: Ohne die Ukraine sei in Europa kein Frieden zu machen. „Wir lernen etwas über Europa, durch die Ukraine", so Susann Worschech.
VCPU-Gespräch: Missverständnisse über Geschichte, Kultur und Politik der Ukraine
Wie viel es noch zu lernen gibt, verdeutlichte die vom VCPU organisierte Diskussionsrunde mit den Osteuropa-Historikern Prof. Dr. Jan Claas Behrends und Prof. Dr. Andrii Portnov sowie der Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Annette Werberger. Sie sprachen über das Thema „Teufelskreis des Missverständnisses: Zehn Dinge, die man über die Ukraine wissen sollte“. Die sehr gut besuchte Diskussion fand in einem Raum mit dem symbolträchtigen Namen „Maidan“ statt. Spätestens 2013 mit den Ereignissen auf dem Maidan sollte sich der verzerrte Blick auf die Ukraine in der deutschen Öffentlichkeit ändern. Die Veranstaltungsreihe Cafe Kyiv startete aber nicht 2014 nach dem eigentlichen Anfang des Krieges in der Ukraine, sondern erst 2023 zum ersten Jahrestag der vollumfänglichen Invasion, stellte Jan Behrends zu Beginn heraus. Die Solidarität mit der Ukraine sei in Deutschland 2013/14 viel zu gering gewesen, so seine Einschätzung. Die Ukraine sei das erste Land mit einem friedlichen Machtwechsel im postsowjetischen Raum gewesen, aber das sei ziemlich unbemerkt geblieben. Es sei viel zu viel über Nationalismus gesprochen worden, aber viel zu wenig über die starke Zivilgesellschaft, über Spaltung statt Vielfalt, merkte Jan Behrends an.
Annette Werberger betonte, dass die Ukraine lange Zeit auch nicht als Tourismus-, Kultur- und Kunstland wahrgenommen wurde. Das Alter der Kultur spiele dabei eine wichtige Rolle. Man datiere ukrainische Kultur fälschlicherweise auf 1991, maximal 1917 zurück. In Deutschland würden zeitgenössische Autoren wie Serhij Zhadan und Tanja Maljartschuk gelesen, aber nichts Älteres. Der ukrainische Barock und die ukrainische Avantgarde seien kaum bekannt. Dabei spielen sie eine enorm wichtige Rolle bei der Herausbildung der ukrainischen Kultur und des Selbstverständnisses der ukrainischen Gesellschaft. Die Nationalisierung der ukrainischen Kultur im 19. Jahrhundert sei nicht mit Nationalismus gleichzusetzen, betonte Annette Werberger. Es gehe vielmehr um Demokratisierungsprozesse, wie beispielsweise bei Mychajlo Drahomanow.
Andrii Portnov zog mit seinen zehn Punkten zur ukrainischen Geschichte eine Art Bilanz dieser Diskussion:
1. Die ukrainische Geschichte, Sprache und Kultur beginne viel früher als 1991 oder 1917.
2. Die moderne Ukraine sei nicht nur ein „Bloodlands“ wie im gleichnamigen Buch von Timothy Snyder beschrieben – und die Sowjetunion nicht nur Russland.
3. Der ukrainische Nationalist Stepan Bandera sei keine Schlüsselfigur der ukrainischen Geschichte.
4. Die Ukraine sei ein Beispiel für den vielleicht größten religiösen Pluralismus unter den mittel- und osteuropäischen Ländern.
5. Die ukrainische Geschichte sei nicht nur eine Geschichte der ethnischen Ukrainerinnen und Ukrainer.
6. Ein großer Teil der heutigen Ukraine sei viel länger Teil des Königreichs Polen als Teil des Russländischen Reiches oder der UdSSR gewesen.
7. Um die sprachliche Situation in der Ukraine angemessen zu beschreiben, ist es wichtig, den situativen Charakter der Zweisprachigkeit und die wichtige Rolle der Mischsprache Surzhyk als soziokulturelles Übergangsphänomen zu berücksichtigen.
8. Deutsche Truppen haben das Gebiet der heutigen Ukraine im 20. Jahrhundert zweimal besetzt (1918 und 1941).
9. Die ukrainische Geschichte könnte durch das Prisma der Kategorie „Befreiungskampf“ gerahmt werden (nach Anna Veronika Wendland).
10. Das Nachdenken über die Geschichte ist wichtig, um zu versuchen, die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu spüren.
Wissenschaft als elementarer Teil im Wiederaufbau der Ukraine
Um die Herausforderungen ukrainischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler während des Krieges ging es in der Gesprächsrunde „Zwischen Exil und Rückkehr“, in der Susann Worschech mit Dr. Philipp Schmädeke (science at risk) und Dr. Kateryna Kobchenko (Universität Münster) sprach. Es sei, so Susann Worschech, notwendig, „die Professionen der ukrainischen Wissenschaftler*innen ernst zu nehmen“ und ihre Forschung auch in Deutschland zu verstetigen. Nach dem „brain drain“ müsse man zu einer „brain circulation“ – einem kontinuierlichen Wissensaustausch von Ukrainer*innen mit Wissenschaftler*innen und Institutionen anderer Länder – kommen, forderte Philipp Schmädeke. Bislang fehle allerdings noch immer ausreichendes Bewusstsein, „was für ein intellektueller Schatz damit verbunden ist“, so Susann Worschech. Um langfristige und nachhaltige Kooperationen aufzubauen, hat KIU unter anderem ein Tandemsystem etabliert, mit dem dauerhafte intensive wissenschaftliche Zusammenarbeit und Austausch von deutschen Professor*innen mit Gastwissenschaftler*innen etabliert werden soll. KIU-Koordinatorin Susann Worschech ist der Überzeugung, dass auch die „Wissenschaft als elementarer Teil des Wiederaufbaus der Ukraine“ anzusehen ist. Es gelte, die Förderprogramme bedarfsorientiert anzupassen, um auch neben Forschungsaufenthalten von ukrainischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern institutionelle Kooperationen zu ermöglichen.
Auch Stefan Henkel, stellvertretender Leiter der Abteilung Internationale Angelegenheiten der Viadrina, sprach bei einer weiteren Runde über Möglichkeiten des Wiederaufbaus der Ukraine. Unter dem Titel „Synergien für den Wiederaufbau: Was können Partnerschaften bewirken?“ tauschte er sich mit Julia Chenusha (Blau-Gelbes Kreuz), Nataliia Fiebrig (Ukraine2Power), Małgorzata Ławrowska-von Thadden (OBMIN), Lily Nabochenko (Mykolaiv Water Hub) und Alexander Tebbe (Crowd Ukraine) über seine Erfahrungen aus. Die Runde wurde organisiert von der Plattform Wiederaufbau Ukraine, eine Initiative der Bundesregierung.
Bozhena Kozakevych / Jeannette Brabenetz
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