„Wenn der Krieg endet, beginnt damit nicht automatisch der Frieden.“ – KIU-Stipendiatin Tetiana Kalenychenko über ihre Forschung
Wie löst man gesellschaftliche Konflikte in einem Land, das sich im Krieg befindet? Wie ermöglicht man innergesellschaftliche Dialoge und welche Rolle spielt Religion für den Zusammenhalt von Gesellschaften? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Soziologin Dr. Tetiana Kalenychenko schon lange und vertieft diese Forschung während ihres KIU-Stipendiums an der Viadrina.
Tetiana Kalenychenko lebt in der Region Butschas und ist beruflich in der gesamten Ukraine unterwegs. Früher war sie deswegen auch viel in den Regionen Donezk und Luhansk. Seit mehr als drei Jahren nicht mehr. Tetiana Kalenychenko ist eine der KIU-Stipendiatinnen, die direkt vor Ort in der Ukraine gefördert wurde. Die promovierte Religionssoziologin forscht primär in der Friedens- und Konfliktforschung, arbeitet aber auch selbst aktiv als Mediatorin und Gesprächsvermittlerin. Dass sie sich mit diesen Themen auf mehreren Ebenen beschäftigt, hat vor allem Vorteile, sagt sie: „Als Forscherin setze ich mich mit den Gegenständen auseinander und kann dann direkt im Feld überprüfen, ob das funktioniert. Das macht mir wirklich Freude.“ Seit 2015 arbeitet und forscht sie schon mit und an diesen Themen. Seitdem hat sich viel verändert, die Situation ist dynamisch. Vor allem der russische Angriff auf die Ukraine stellt einen großen Einschnitt dar, auch für ihre Arbeit und Forschung.

Ukrainian Community of Dialogue Practitioners (UCoDP)
„Die Theorien zu Peacebuilding innerhalb einer Gesellschaft beziehen sich vor allem auf Kontexte von Bürgerkriegen. Im Fall der Ukraine haben wir aber einen zwischenstaatlichen Krieg. Das heißt nicht, dass diese Theorien gar nicht auf die Situation in der Ukraine anwendbar sind, aber eben nur bedingt“, erklärt Tetiana Kalenychenko. Ihr ist es deshalb wichtig, den theoretischen Rahmen ihrer Forschung zu überdenken, ihn theoretisch auszubauen und auch staatsinterne Konflikte zu berücksichtigen. Denn wie in jeder Gesellschaft, gibt es auch in der Ukraine verschiedene Lager, politischen und sozialen Dissens und große innere Konflikte, die auch im Krieg nicht einfach aufhören.
Wie man trotzdem gesellschaftlichen Zusammenhalt fördert, während sich das Land in einem staatsübergreifenden Krieg befindet, ist dabei eine der zentralen Fragen des Projektes, zu dem sie gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern forscht. Konkret schauen sie sich dafür an, wie Dialog zwischen verschiedenen religiösen Akteuren gelingen kann. „Die Ukraine ist natürlich ein multireligiöser Staat; die meisten identifizieren sich selbst aber als orthodox. Dabei geht es nicht nur um Religion, sondern um kulturelle Identität. Wir haben verschiedene orthodoxe Kirchen in der Ukraine, von denen vor allem zwei miteinander im Konflikt sind“, erzählt Tetiana Kalenychenko. Ein Strang habe sich vor allem in der Ukraine entwickelt, der andere stand vor allem in Verbindung zu Moskau. „Es ist also wirklich kompliziert. In diesem Konflikt geht es vor allem um Identität während des Krieges und wie sie sich verändert“, erklärt sie die Situation.
Der Konflikt zwischen den beiden Kirchen habe bereits vor Kriegsausbruch bestanden. Dabei geht es um theologische, aber auch politische und wirtschaftliche Einstellungen. Seitdem hätten sich die damit verbundenen Fragen aber verschärft, sind dringlicher geworden. „Wir arbeiten noch immer mit beiden Kirchen und suchen nach Möglichkeiten Vertrauen zu schaffen und bestimmte Unstimmigkeiten zu überwinden“, erklärt Tetiana Kalenychenko. Dafür arbeiten sie mit verschiedenen Akteuren auf allen Ebenen zusammen, mit Priestern, Bischöfen, einfachen Gläubigen. Ihre Mediations- und Forschungsarbeit findet dabei manchmal gleichzeitig statt. Als Mediatorin möchte sie damit vor allem soziales Kapital und soziales Vertrauen stärken.
„Die Rolle von Religion wird häufig unterschätzt und als der Privatsphäre angehörig verstanden, dabei gehört es auch zur öffentlichen Sphäre. Es geht nicht nur um Religion als solche, sondern darum, welche Narrative es dort gibt, wie soziale Praktiken und Netzwerke entstehen, die funktionieren. Sowohl radikale, als auch fundamentale Gruppen können auf religiöser Zugehörigkeit basieren. Es ist sehr wichtig das zu verstehen“, unterstreicht Tetiana Kalenychenko.
Durch ihre Forschung kommt sie zu dem Schluss, dass agonistische und adaptive Peacebuilding-Ansätze in der Ukraine bisher gut funktionieren. „Das bedeutet, dass man nicht im Grundsatz vereint sein muss, um zu einer gemeinsamen Entscheidung zu kommen. Zumindest wenn es eine Art äußeren Feind gibt, ist es möglich, genügend Verhandlungsspielraum zu schaffen, wenn beide Parteien überleben wollen“, stellt Tetiana Kalenychenko fest. Dabei ist es ihr wichtig zu verdeutlichen, dass es in der Friedensvermittlung nicht nur um Aushandlungen bestimmter Konfliktpunkte geht: „Es geht darum, wie wir während des Krieges und danach eine Gesellschaft bleiben können. Wenn der Krieg endet, beginnt damit nicht automatisch der Frieden.“ In dem Verständnis von Tetiana Kalenychenko ist Frieden ein Prozess, der ermöglicht nicht nur physisch unversehrt zu bleiben, sondern in seiner Identität in Freiheit zu leben, sich verbunden und beschützt zu fühlen und zu sein.
Der Krieg hat auch die Forschung und Wissenschaft verändert, berichtet die Soziologin. Sie habe weniger Zugang zu bestimmten Daten, aber auch Regionen. Das Forschungsteam ist in Europa verstreut; sie sitzen in der Schweiz, in Finnland und der Ukraine. Das funktioniere gut, sei mitunter aber mühsam, erzählt Tetiana Kalenychenko. Da ein Großteil ihrer Kolleginnen und Kollegen im Ausland ist, sei es schwierig, sich angebunden zu fühlen, in echtem Kontakt zu bleiben. Für Reflexion und Austausch sei viel weniger Raum: „Es gibt kaum Gelegenheit einfach zu sprechen und gemeinsam zu überlegen. Man ist außerdem permanent unter Stress.“ Die Gründe, warum sie selbst noch in der Ukraine ist, sind vielschichtig: „Ich glaube, dass wir Dinge verändern können und ich denke, dass meine Arbeit gerade jetzt und auch für die Zeit nach dem Krieg sehr wichtig ist. Ich glaube nicht, dass ich im Ausland meine Arbeit so weiterführen könnte.“ Trotzdem sei die soziale Situation belastend, die Abwesenheit so vieler spürbar: „Die größte Tragödie in diesem Zusammenhang ist aber vielleicht, dass wir viele Menschen verloren haben, die wirklich Veränderungen hätten bewirken können“, konstatiert Tetiana Kalenychenko.
Lea Schüler
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