Verschollene Dokumente über Nazi-Kunstraub im Moskauer Archiv entdeckt – Dr. Tatiana Timofeeva wertet Akten an der Viadrina aus
Die russische Historikerin Dr. Tatiana Timofeeva hat in Moskauer Archiven bisher als verschollen gegoltene Korrespondenzen zum „Sonderauftrag Linz“ erschlossen. Dahinter verbirgt sich der nie umgesetzte Plan von Adolf Hitler, in Linz ein Kunstmuseum mit bedeutenden Werken der Weltkunst zu eröffnen, die er europaweit beschlagnahmen und aufkaufen lässt. Aufgrund des Krieges Russlands gegen die Ukraine ist Timofeeva seit 2023 an der Viadrina tätig. In Russland war es ihr nicht mehr möglich, frei über die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland zu lehren und zu forschen.
Die Akten, die Tatiana Timofeeva und ihr Kollege Prof. Wladimir Sacharow mitten in der Pandemie im Russischen Staatlichen Militärarchiv aufschlagen, erzählen von der Jagd nach Kunst im Zweiten Weltkrieg. Sie beschreiben, wie Hitlers Abgesandte in ganz Europa die Werke der renommiertesten Künstler aufkauften, beschlagnahmte jüdische Sammlungen durchforsteten und aufteilten und diese Kunst später angesichts verstärkter Angriffe der Alliierten in Schlössern und Minen versteckten. Es sind die Korrespondenzen deutscher Behörden über das von Adolf Hitler geplante Kunstmuseum in Linz. Seitdem die sowjetische Armee diese Akten 1946 aus dem besetzten Deutschland abtransportiert hat, hat wohl niemand mehr die schweren Ledereinbände aufgeschlagen und Holzkisten geöffnet. Tatiana Timofeeva sorgte dafür, dass diese Korrespondenzen, sowie Inventarlisten und Karteikarten, die sie ebenfalls in Moskauer Archiven fand, Blatt für Blatt eingescannt wurden. Rund 40.000 Scans waren es am Ende. Möglich wurde das durch die Finanzierung und Unterstützung des Deutschen Zentrums für Kulturgutverluste und dem Deutschen Historischen Institut (DHI) Moskau.

Heide Fest
Mühsamer Weg zu den Akten
Aber warum hat sich so lange niemand für diesen historisch so aufschlussreichen Fundus interessiert? Die wohl einfachste Erklärung, die auch Tatiana Timofeeva äußert: „Die Dokumente wurden einfach vergessen. Das waren ja keine Kunstschätze, deshalb waren sie unwichtig. Außerdem war die deutsche Sprache nie die populärste, auch in Moskau nicht.“ Etwas zögerlicher fügt sie hinzu: „Man wollte im Kalten Krieg dem westlichen Feind einfach gar keine Informationen geben.“ Und schon ist man mitten drin in dem Geflecht, das die Forschung von Tatiana Timofeeva so spannend aber auch so schwierig macht. Unterlagen, die ihr Spezialgebiet – die Alltagsgeschichte im deutschen Nationalsozialismus – betreffen, sind auch aktuell geschichts- und erinnerungspolitisch brisant. Bis sie die Akten im Militärarchiv aufschlagen konnte, musste sie einige bürokratische Hürden überwinden und viel Beharrungsvermögen aufweisen. Mal wurde die Existenz der Dokumente abgestritten, mal wurden sie kurzerhand an einen anderen Ort verschoben.
Schon ab 2016 hatte sich Tatiana Timofeeva, die damals an der Moskauer Lomonossow-Universität Geschichte lehrte, in einem deutsch-russisch-ukrainischen Forschungsprojekt mit „Kultur als Beute des Zweiten Weltkrieges“ beschäftigt. Auf das von der Volkswagen-Stiftung finanzierte trilaterale Vorhaben, an dem bereits Viadrina-Forschende beteiligt waren, folgten weitere Projekte mit ähnlichem Inhalt – bis zum Februar 2022. Einer der Förderer, das Deutsche Historische Institut Moskau wurde im Juni 2024 von Russland zur „unerwünschten Organisation“ erklärt und im November 2024 förmlich geschlossen. Ihr aktuelles Projekt wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Mit dem 24. Februar 2022 beginnt die Angst vor Denunziation
Dass Tatiana Timofeeva inzwischen nicht mehr nur mit Viadrina-Forschenden zusammenarbeitet, sondern selbst an der Europa-Universität forscht und lehrt, hat seinen Anfang im Februar 2022. Als Russland seinen Krieg gegen die Ukraine zu einer Vollinvasion ausweitete, hatte das DHI Moskau gerade die letzte Charge von Scans aus dem Archiv erhalten; die Arbeit sollte nun in eine neue Phase der Auswertung und Systematisierung übergehen. Doch der 24. Februar änderte alles für die Historikerin – privat und beruflich. „Ich hatte nie den Wunsch nach Exil oder Migration; ich war 30 Jahre lang Dozentin in der historischen Fakultät meiner Alma Mater“, beschreibt sie ihre damalige Situation. Doch der Schock des Überfalls auf die Ukraine hielt bei ihr, anders als bei ihren Kolleg*innen, an. Sich mit der neuen Situation zu arrangieren, wie es ihr geraten wurde, konnte sie nicht.
Ihre Forschung und Lehre zum Zweiten Weltkrieg war strengen Vorgaben unterworfen, eine „Verfälschung der Rolle der Sowjetunion“ wurde bei Strafe verboten. „Das schlimmste Gefühl war die Furcht vor Denunziation“, sagt sie. Hinzu kamen Freunde, die gegen Ukrainer*innen hetzten, und ein Priester, der von den heiligen russischen Waffen predigte. „Auf einmal war jede Diskussion ausgeschlossen“, schaut sie noch immer fassungslos auf diese Zeit zurück. „Ich habe verstanden, dass ich mein Land nicht kenne, dass ich es verloren habe.“ Gemeinsam mit ihrem Sohn, der nach dem IT-Studium in die Armee eingezogen werden sollte, entschloss sie sich nach Deutschland zu gehen. Forschende vom damaligen Zentrum für Interdisziplinäre Polenstudien der Viadrina (ZIP, heute VCPU) nahmen sie auf, richteten ihr eine Wohnung ein und unterstützen sie in Frankfurt (Oder). „Ohne das Verständnis meiner Kollegen und Freunde wäre es nicht gut gegangen“, betont Tatiana Timofeeva.
Aufgezeichnete Korrespondenzen erweisen sich als einmalig
Die in Moskau eingescannten Dokumente ermöglichten es Tatiana Timofeeva, in dieser Zeit der großen privaten Umbrüche, an ihrer Forschung weiterzuarbeiten. „In Deutschland begann ich, die Dokumente wirklich zu verstehen“, sagt sie heute. Vor ihr lagen aufreibende Monate des Sortierens und Abgleichens. Durch die Wirren nach dem Kriegsende waren nicht nur die Kunstwerke, sondern bis heute auch die Dokumentationen zersplittert und weit zerstreut worden. Mit großem Aufwand verglich Tatiana Timofeeva nun am Computer in Frankfurt (Oder) und in Archiven ihre Funde mit bereits in Deutschland und Österreich aufgearbeitetem Material. „Meine größte Überraschung war, dass es bei den Korrespondenzen kaum Überschneidungen mit existierenden Akten gab“, berichtet Tatiana Timofeeva immer noch etwas ungläubig.
Mit Hilfe der neu erschlossenen Dokumente möchte sie Sammelbiografien über Hitlers Helfer schreiben, die im zweiten Rang am Aufbau des Museums in Linz mitgearbeitet haben. „Ihre Rolle war wirklich groß“, sagt sie und erhofft sich, damit die Geschichte vom „Sonderauftrag Linz“ noch genauer aufzuarbeiten. „Unbegreifbar“ bleibt für sie, dass große Mengen an unsortierten Materialien seit 1945 in russischen Archiven verstauben. „Man muss doch einmal Schluss mit Krieg machen, und diese Sachen als Zeichen der Versöhnung wieder zurückgeben. Auch deutsche Beute-Dokumente gehören zur deutschen Geschichte“, ist sie überzeugt.
Die Frage, wie Kunst und Krieg überhaupt zusammengehören, treibt Tatiana Timofeeva um, seitdem sie sich mit dem Thema näher beschäftigt. „Man könnte denken, Kunst und Krieg, die gehören nicht zusammen, das sind zwei entgegengesetzte Pole. Aber sie waren schon immer verbunden. Ob heute oder in der Zeit von Napoleon, im Zweiten Weltkrieg oder der Nachkriegszeit – immer wieder gab es Bestrebungen von Herrschern, das größte oder beste Museum überhaupt zu schaffen, um mit dieser Parole den Kunstraub zu organisieren.“ Der Besitz von Kunst- und Kulturgütern, ob man sie nun schätzt und der Öffentlichkeit zeigt, oder in Archiven versteckt, sei immer auch ein Zeichen von Macht und Dominanz.
Frauke Adesiyan
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