30 x Viadrina & ich: „Die Viadrina war für mich ein großer Glücksfall“
In der Reihe „30 x Viadrina & ich“ berichtet die emeritierte Professorin Anna Schwarz davon, wie sie nach dem Zusammenbruch des DDR-Wissenschaftssystems mithalf, an der Viadrina die Kulturwissenschaften aufzubauen und unter welchen Bedingungen echte interdisziplinäre Zusammenarbeit gelingen kann. Anlässlich von 30 Jahren Europa-Universität berichten 30 Menschen – vom Erstsemester bis zur emeritierten Professorin – welche Rolle die Viadrina in ihrem Leben spielt.
Als Anna Schwarz 1991 – damals Stipendiatin an der Universität Trier – in der Wochenzeitung „Die Zeit“ eine Stellenanzeige für eine politikwissenschaftliche Professur an der neu gegründeten Viadrina liest, bewirbt sie sich „rotzfrech“ – und wird eingeladen. An einem Samstagabend, gegen 20 Uhr, betritt sie das Hauptgebäude, tappt im Dunkeln und denkt bei sich „Was ist denn das fürn Joke?“. „Da kam mir auf dem dunklen Gang eine Taschenlampe entgegen und dahinter eine große männliche Person, die sagte: Sie müssen Frau Schwarz sein.“ Auch 30 Jahre später muss Anna Schwarz noch schmunzeln, wenn sie von diesem ersten Ankommen an der Viadrina erzählt. Der Mann, der sie zum Bewerbungsgespräch mit der „Crème de la Crème der europäischen Sozialwissenschaften“ in den Keller des Gebäudes führt, ist Prof. Dr. Hans N. Weiler. Es wird ihr künftiger Chef, auch wenn es mit der Professur – erstmal – nicht klappen soll. Der Dekan und spätere Rektor Weiler stellt Anna Schwarz als Assistentin ein; in den kommenden Jahren wird sie die Kulturwissenschaftliche Fakultät im Dialog mit erfahrenen Professorinnen und Professoren quasi aus dem Nichts mit aufbauen.
Anna Schwarz bereut nur eins an der Viadrina: nie richtig Polnisch gelernt zu haben. Foto: Heide Fest
Im Rückblick ist dieser Tag für Anna Schwarz „ein großer persönlicher und beruflicher Glücksfall“. 1973 hatte sie in Ostberlin ihr Abitur gemacht, war zum Philosophiestudium nach Moskau gegangen und hatte an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften in Berlin 1984 promoviert und 1988 habilitiert. Zwei Jahre später stand ein Großteil der DDR-Wissenschaftlerinnen und -Wissenschaftler vor dem Aus. Akademien wurden aufgelöst, ohne internationale Kontakte und Publikationen war ein wissenschaftlicher Karriere-Neustart für viele unmöglich. Anna Schwarz wartete den Zusammenbruch des Systems nicht ab, sondern kratzte gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen das Startkapital für eine GmbH zusammen und gründete das Berliner Institut für Sozialwissenschaftliche Studien (BISS), um Forschungsgelder zu akquirieren. Gefördert von der Volkswagenstiftung arbeitete sie in einem soziologischen Forschungsprojekt zur Entwicklung der Selbstständigkeit in Ostdeutschland mit. „Es liegt mir nicht, Zeter und Mordio zu schreien, ich habe einen tiefsitzenden Optimismus“, begründet sie ihr damaliges Vorgehen. In dieser Einstellung, ihrer Flexibilität, gepaart mit guten Sprachkenntnissen auch im Italienischen und Französischen und einem empirischen Forschungsschwerpunkt, mögen einige der Gründe liegen, warum Anna Schwarz als in der DDR ausgebildeter Wissenschaftlerin entgegen dem Trend eine Karriere in der bundesdeutschen Wissenschaft gelingt.
Zunächst geht es für sie an der Europa-Universität aber weniger um Forschung und Lehre als um Management. Im 15. Stock des Oderturms mit weitem Blick über die Stadt und die Oder arbeitet sie daran, die Kulturwissenschaftliche Fakultät mit aufzubauen und einen ersten Studiengang zu etablieren. Mit der Sekretärin Kathrin Mokosch sitzt sie dort, oft nur telefonisch mit den beiden Gründungsdekanen Prof. Dr. Hans N. Weiler in Stanford und Prof. Dr. Rudolf von Thadden in Göttingen verbunden. „Beide hatten sehr unterschiedliche Vorstellungen: Während Weiler einen sehr modernen, interdisziplinären Cultural Studies-Studiengang installieren wollte, war von Thadden eher der klassisch gestandene Historiker, der möglichst sämtliche üblichen Lehrstühle besetzen wollte“, erinnert sich Anna Schwarz. Es braucht also einen Kompromiss, der schließlich in der Zusammenführung von Geistes- und Sozialwissenschaften gefunden wird. Im Oktober 1993, ein Jahr nach der Wirtschaftswissenschaftlichen und der Juristischen Fakultät, starten die Kulturwissenschaften in den Studienbetrieb. Auf die Frage, wie es gelungen sei, in so kurzer Zeit ein gänzlich neues Studienangebot zu planen und organisieren, antwortet Anna Schwarz: „Wir hatten einfach gute Leute dabei – und es gab keine Struktur, gegen die wir ankämpfen mussten. Wenn man von Null an etwas etablieren kann, geht das leichter als einen großen Tanker mit alten Besitztümern umzubauen.“
Zwei Jahre später wird Anna Schwarz selbst zur Professorin an der Fakultät ernannt, die sie mit aufgebaut hat. Ab 1995 ist sie Professorin für politische Soziologie; ein Jahr darauf wird sie zur Prorektorin für Lehre gewählt.
Nach den ersten „wilden Jahren“, in denen „so vieles möglich war“, sind es für Anna Schwarz vor allem die interdisziplinären Projekte in Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen der anderen Fakultäten, die sie im Rückblick an der Viadrina begeistern. Ob im Frankfurter Institut für Transformationsforschung, am Viadrina Center B/ORDERS IN MOTION oder in einem Forschungsprojekt zu neuen Erwerbsformen im digitalen Zeitalter, das sie mit Arbeitsrechtlerin Prof. Dr. Eva Kocher und Management-Prof. Dr. Jochen Koch bearbeitet – Anna Schwarz ist überzeugt: „Diese wirklich interdisziplinäre Forschung funktioniert nicht auf Verordnung, da müssen sich Leute finden, die miteinander können und ähnliche Ideen haben.“ Ein Klima der Zusammenarbeit, ein vorurteilsfreier Austausch zwischen den Disziplinen – das ist es auch, was sie der Viadrina anlässlich des 30-jährigen Bestehens für die Zukunft wünscht. Für sie selbst war auch die Arbeit mit den Studierenden immer eine Inspirationsquelle. So betreute sie beispielsweise eine Abschlussarbeit über Strategien des Coworking, die sie schließlich im Senat dafür eintreten ließ, dass auch die Viadrina einen Coworking Space etabliert.
Inzwischen entstehen genau solche Räume zwischen Audimax und Wohnheim, eine Entwicklung, die Anna Schwarz auch nach ihrer Emeritierung 2019 mit Interesse verfolgt. Zwei laufende Forschungsprojekte und Dissertationen, die sie betreut, verhindern ebenfalls einen endgültigen Abschied von der Viadrina, deren erste 30 Jahre Anna Schwarz beinahe komplett begleitet hat. Und obwohl sie voller Freude auf diese Viadrina-Jahre zurückschaut, gibt es doch eine Sache, die sie bis heute ärgert: Trotz mehrerer Anläufe habe sie nie richtig Polnisch gelernt. „Ich habe es immer als Skandal empfunden, dass viele Polen so gut Deutsch sprechen, und ich verstehe auf Polnisch nur Bahnhof. Das ist einfach peinlich“, sagt sie selbstkritisch.
(FA)